Die Muße (8:00)

Die Muße ist ein immens wichtiger Bestandteil einer deutschen Rehabilitationseinrichtung. Die Muße ist vorgeschrieben und muss strikt eingehalten werden. „Finden Sie Muße!“, schallt es mir an allen Ecken und auf nahezu jedem Blatt des Einladungsschreibens der Reha-Klinik entgegen. „Entspannen Sie sich. Finden Sie Ruhe. Ordnen Sie ihre Gedanken. Überdenken Sie ihren Alltag. Lassen Sie los. Leben Sie im Hier und Jetzt. Tun Sie auch mal nichts. Genießen Sie die Freizeit.“

Muße. Ach, wie schön das klingt! Das wird sicherlich eine ganz tolle, unvergessliche und vor allem entspannte Reha. Und die habe ich nach meiner Krebserfahrung im vergangenen Jahr auch bitter nötig.

Am ersten Tag der Reha werde ich mit dem Feind der Muße konfrontiert: Dem Terminplan. Da steht alles drin. Aufstehen, Blut abnehmen, Sport, Vorträge, Frühstück, Mittag, Abendessen – nur keine Muße. Wo ist denn die Muße? Richtig, die muss ich ja finden. Na ja, kann ja nicht so schwer sein. Und am ersten Tag muss ich ja auch nicht sofort mit Muße beginnen. Aber am zweiten vielleicht?

Der zweite Tag beginnt nach dem Frühstück mit drei Vorträgen über die Angebote und Leistungen der Reha-Klinik. Von medizinischer Betreuung über psychologische Gespräche sowie Wandern, Wassergymnastik, Klangschalen und Tai Chi bis hin zu malen, singen, trommeln, rückwärts sprechen und Globuli selber schnitzen kann sich hier jeder nach seinen Bedürfnissen amüsieren und behandeln lassen.

Anschließend ist es schon Zeit fürs Mittagessen. Spaghetti Bolognese, Salat, Pudding. Danach sofort Badminton. Und dann weiter zum Wassersport. Volle Pulle Zirkeltraining mit Poolnudeln und Styropor-Frisbees. Und ein paar Bröckchen Bolognese habe ich da hinterher auch irgendwo rumschwimmen gesehen, glaube ich.

Danach duschen in der Umkleide. Jetzt vielleicht Muße? Mal sehen. Vom Schwimmbad bis in mein Zimmer muss ich vier Etagen mit dem Fahrstuhl fahren. Ich zwänge mich mit einem Dutzend feuchter Männer in den Lift. Ruhig ist es. Aber nicht entspannend.

Muss die Muße also weiter verschoben werden. Zumal ich mich auf meinen morgigen Fitnesstag noch gar nicht richtig vorbereitet habe. Im Terminplan steht, dass ich zum Ergometertraining meine Trinkflasche mitbringen soll. Habe ich noch gar nicht. Muss ich kaufen. An der Rezeption frage ich auch gleich nach dem Raum mit der Waschmaschine und wie das da so läuft. Zwei Euro müsse ich da hineinwerfen, mehr nicht, wird mir erklärt.

Ich schaue mir das genauer an. Neben der Waschmaschine steht ein Trockner, der ebenfalls zwei Euro kostet. Brauche ich den? Ja, denn einen Wäscheständer oder einen Raum mit Wäscheleinen gibt es nicht. Und die zwei Haken in meinem Zimmer sind bereits mit Handtüchern, Klamotten und Badesachen überladen. Klingt nach Abzocke? Kann sein, zumal ich für WLAN auch extra bezahlen muss, genauso wie für Kaffee am Nachmittag, fürs Telefonieren, fürs angerufen werden und fürs Telefon angucken.

Nun ja, will ich mal nicht so sein. Schließlich habe ich diese Reha genehmigt bekommen und da sollte ich dankbar sein. Die Muße würde sich schon irgendwann finden. Gespräche und Austausch mit den anderen Insassen sind ja auch ganz nett. Und wenn man sich ein paar Exemplare zu Gemüte geführt hat, kommt das Bedürfnis nach Muße von ganz allein.

Da ist zum Beispiel Heinzi. Der muntere Mittfünfziger trägt seit vier Tagen denselben Trainingsanzug und dasselbe grüne T-Shirt. Heinzi sagt Sätze wie: „Auf dem Weg hierher bin ich zum ersten Mal ICE gefahren. Die Toiletten da sind so klein, da passten kaum meine beiden Koffer rein. Und draußen stehen lassen geht ja nicht. Die sind ja weg, wenn ich wieder rauskomme.“

Heinzi freut sich wie wild auf den Abend, an dem die Gospelsingers in der Klinik auftreten. „Spielen die auch ,Amazing Grey‘?“, fragt er. Du suchst amazing grey?, denke ich. Dann schau mal aus dem Fenster. Der Harz hat um diese Jahreszeit jede Menge umwerfendes Grau zu bieten.

Ein paar Tage später reist Heinzi glücklicherweise ab. Kurz darauf, beim Vortrag über gesunde Ernährung, ist er aber wieder da. Er sieht anders aus, hat jetzt kurze Haare und keine Brille mehr. „Ich trinke manchmal einen Liter Milch in nur 20 Minuten weg. Ist das schlimm?“, fragt er. Manchmal ist Heinzi auch eine Frau, die sagt: „Ich habe gleich Atemtherapie, da muss ich vorher noch eine rauchen.“ Und manchmal ist beim Abendessen ein ganzer Tisch nur mit Heinzis besetzt. Alte, junge, dicke, dünne, Männer, Frauen und alles undefinierbare dazwischen – Heinzi ist überall. Im Sommer fliegt Heinzi nach Malle und reserviert sich morgens um 6 die erste Liege am Pool. Im Winter fährt Heinzi zur Reha und deckt einen ganzen Tisch für sich und seine Kumpels. Und er trägt dabei genau das gleiche Unterhemd wie im Hotelrestaurant in Cala Ratjada.

Es dauert ein paar Tage, bis ich die heinziarmen Zeiten in der Kantine ausgemacht habe. Je später die Essenszeit, desto weniger Heinzis. Um 11.30 Uhr kratzen sie bereits an der Tür. Mit letzter Kraft schleppen sie sich dann an die Essensausgabe. Das Frühstück ist ja schon vier Stunden her. Gegen 12.45 Uhr komme ich dann ganz entspannt um die Ecke geschlendert und kann mir einen freien Tisch am Fenster aussuchen. Die meisten Heinzis sind da bereits wieder abgedampft, qualmen sich im Raucherpavillon die Gesundheit aus dem Körper oder lungern auf den Sitzbänken im Foyer herum, reißen 30 Jahre alte, schmutzige Witze und freuen sich jetzt schon wieder aufs Abendessen. Die 20 Minuten „Walking“, die gleich auf dem Terminplan stehen, sind schließlich dermaßen kräftezehrend, dass es gar nicht schnell genug 17.30 Uhr werden kann.

Beim Essen ist an Muße also auch nicht zu denken. Vielleicht beim Thai Chi Qi Gong? Habe ich noch nie gemacht, wird einem hier praktisch hinterhergeworfen, kann ich ja mal ausprobieren.

Thai Chi Qi Gong ist eine Kombination aus mehreren alten asiatischen Kampfkünsten, wird mir in der Einführung erklärt. Dass ich mit den sanften Bewegungen jemanden verletzten könnte, bezweifle ich allerdings. Wir streicheln mit den Händen die Luft, fahren mit den Fingern an der Innenseite einer unsichtbaren Welle entlang und erfühlen von oben nach unten die Konturen einer imaginären Säule, die vor uns steht. Dazu läuft asiatische Entspannungsmusik und die Therapeutin macht mit ruhiger Stimme alle Übungen vor. Zu Beginn bin ich etwas skeptisch. Wir bewegen uns zwar nur langsam und bedächtig, doch teilweise wird das Gleichgewicht ganz schön beansprucht.

Wir legen unsere Hände auf die Körperstellen, an denen wir besonders viel Kraft brauchen, schließen die Augen und lassen die Energie fließen. Es wird ganz still. Ich höre nur meinen Atem und die Klänge der asiatischen Musikanten aus den Lautsprechern. Und plötzlich ist sie da: die Muße. Sie breitet sich vom Bauch über die Brust bis in den Kopf aus. Meine Hände werden warm und meine Schultern kribbeln. Minutenlang stehen wir so da. Keine Bewegung. Kein Wort. „Ich wünsche ihnen einen schönen Tag. Vielen Dank“, sagt die Therapeutin und beendet die Einheit. Ich öffne die Augen und muss lächeln. Durchdrungen von Muße kehre ich zurück in mein Zimmer.

Beim Abendessen sind die Heinzis wieder in Bestform. Am Nachbartisch wird sich über die Tattoos der jungen Leute aufgeregt. Daneben versuchen sie, sich mit ihren Geschichten über entnommene Organe zu übertrumpfen. Zwischen Kamillentee und Leberwurstbrot türmen sich Dickdärme, Bauchspeicheldrüsen, Prostatae und Brüste. Ich habe meine Firewall hochgefahren und sitze in einem Kokon aus Muße. „Ach ihr Heinzis“, denke ich. „Haut doch nicht so auf den Putz. Ihr sitzt hier, könnt laut lachen und euch Rollmöpse, Hackbällchen und Käse reinschieben. Ist doch alles gar nicht so schlimm.“

Nach ein paar Tagen habe ich hier meinen Weg gefunden. Ich tue auch mal nichts und genieße meine Freizeit. Und gerade wenn ich denke, dass mein Mußelevel mal wieder erhöht werden müsste, steht die nächste Einheit Thai Chi auf dem Plan. Thai Chi Qi Gong – Klingt komisch, tut aber gut.

13 Gedanken zu „Die Muße (8:00)

  1. […] Vom 16. Februar bis 9. März 2017 befand ich mich zur Rehabilitation in einem Rehazentrum im Harz. Erholung und die Wiedererlangung körperlicher Bewegungsfreiheit standen hierbei im Vordergrund. Das Programm bestand aus Sporteinheiten wie Schwimmen und Fitness, Entspannung bei z.B. Tai Chi, Vorträgen über gesunde Ernährung uvm. Ich selbst ging zusätzlich draußen laufen und arbeitete mich bis zu den fünf Kilometern vor. Der psychologische Aspekt bei der Bewältigung einer Krebserkrankung kam zwar leider zu kurz, doch in der Gesamtbetrachtung war es eine gute Reha. (Kompletter Beitrag: Die Muße) […]

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  2. Nach der Reha hast Du nun hoffentlich Muße, über all die Heinzis der Welt mit einem beherztem „ommm“ hinwegzusehen. ^^

    Solche Heinzis durfte ich u.a. auf meiner Fahrt nach Straßburg „genießen“, Hammer. %-O

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