Mikrokosmos Reha

Der Wecker klingelt um 6.30 Uhr. Ich stehe auf, ziehe den Vorhang zur Seite, blinzele in die Morgensonne und schleiche ins Bad. Bisschen früh für meinen Geschmack, doch anders geht es nicht. Um 7 Uhr muss ich bereits zum Frühstück. Die Essenszeiten sind vorgegeben. Während Corona können die Hygiene- und Abstandsregeln offenbar nicht anders eingehalten werden. Viel später könnte ich aber auch gar nicht frühstücken gehen, denn um 7.50 Uhr steht bereits meine erste Anwendung auf dem Programm: Gruppengymnastik.

Ich gehe also hinunter in den Speisesaal der Reha-Klinik, schlinge mein Frühstück herunter, das aus etwas Müsli, einem Marmeladebrötchen und drei winzigen Tässchen Kaffee besteht, eile wieder hoch in mein Zimmer im dritten Stock, ziehe mir gymnastiktaugliche Sportkleidung an, schnappe mir mein Laken und begebe mich in die Turnhalle am anderen Ende des Klinikgeländes. Während ich gemeinsam mit den anderen Patienten auf die Therapeutin warte, rinnt mir der Schweiß herunter. Kreislauf und Stoffwechsel sind nun auch wach.

Stressige Entspannung

Zugegeben: Gymnastik so kurz nach dem Frühstück ist schon ok. Nach 30 Minuten sind wir alle fit für den Tag. Und das müssen wir auch, denn mit kurzen Ruhezeiten zwischen den einzelnen Anwendungen ist im Therapieplan immer mal wieder zu rechnen. So auch an diesem Vormittag.

Um 10.30 Uhr geht es zum Walking. Am Treffpunkt scharren schon alle mit den Hufen. Die Therapeutinnen kommen jedes Mal zu spät. Und um 11.30 Uhr müssen einige von uns schon wieder zum Essen! Mit zehnminütiger Verspätung starten wir endlich unsere Runde. Es geht in flottem Tempo durch den Wald, über Wiesen, an Seen entlang, über Landstraßen und wieder durch den Wald. Steigungen rauf und runter. Ein sportlicher Spaziergang, fast schon eine komprimierte Wanderung. Macht Spaß. Und eigentlich bräuchte ich hinterher eine Dusche, frische Klamotten und etwas Zeit zum Ausruhen. Doch wir kehren erst um 11.31 Uhr zurück in die Klinik. Mein Mittagessen wartet schon auf mich. Ich erweitere die Walking-Einheit und begebe mich schnellen Schrittes in den Speisesaal im ersten Stock. Während ich in der Warteschlange vor der Salattheke stehe, rinnt mir der Schweiß wieder die üblichen Kanäle entlang und ich hoffe, dass meine sportbedingten Körperausdünstungen für die übrigen Patienten nicht allzu belastend sind. Verschnaufen kann ich erst, nachdem ich mit meinem Salat an meinem Platz angekommen bin.

Ich setze mich und genieße meine Vorspeise. Was die Qualität des Essens angeht, gibt es hier nichts zu meckern. Die Klinik hat eine eigene Küche und versorgt die Patienten jeden Tag mit frisch zubereiteten und obendrein hübsch angerichteten Gerichten. Die Frische schmeckt man und ich esse hier sogar Kohlrouladen, gefüllte Paprika und Wirsing, was alles eigentlich so gar nicht mein Fall ist.

Mit dem Genuss muss ich mich allerdings auch mittags beeilen. Für das Essen stehen uns nur 30 Minuten zur Verfügung. Dazu kommt, dass das Hauptgericht zu jedem einzelnen Patienten an den Tisch gebracht wird, woran auch wieder die pandemiebedingten Abstandsregeln Schuld sind. Wer also gegen 11.31 Uhr den Speisesaal betritt und gegen 11.38 Uhr mit seinem Salat am Tisch sitzt, wird erst dann von einer Mitarbeiterin registriert. Diese macht sich eine Notiz und kehrt nach fünf bis zehn Minuten mit dem Essen zurück. An manchen Tagen bleiben für Hauptgericht und Nachspeise nur zehn Minuten übrig. Da ist es von Vorteil, dass die Portionen nicht allzu groß bemessen sind. Aber von der Qualität bleibe ich nachhaltig beeindruckt.

Laufen, Wandern, Sightseeing

Nachmittags wird es dann entspannter. Einen Vortrag zu gesunder Ernährung soll ich mir anhören, danach geht es zur Gruppentherapie. Manchmal steht aber auch weniger auf dem Therapieplan. Manche Mitpatienten beschweren sich, wenn sie zwischendurch zu viel Leerlauf haben. Ich weiß meine Zeit meistens sinnvoll zu nutzen. Mit Laufen oder Wandern gleiche ich den therapeutischen Schonwaschgang der Klinik wieder aus. Ich erkunde die reizvolle Umgebung, die für einen Absolventen der Geschichte und Kunstgeschichte überraschend viel zu bieten hat. Und ich trainiere die Laufstrecke bis zehn Kilometer, die in dieser hügeligen Mittelgebirgslandschaft anfänglich durchaus eine Herausforderung darstellt.

Für das Abendessen habe ich die Zeit zwischen 17 und 17.40 Uhr zugewiesen bekommen und spätestens jetzt fühle ich mich wie im Krankenhaus oder Altenheim. Es gibt klassisches Abendbrot, manchmal eine Suppe und manchmal übriggebliebenen Nachtisch vom Mittagessen. Großen Hunger habe ich zu diesem Zeitpunkt meist nicht. Ich esse natürlich trotzdem etwas, denn später gibt es nichts mehr.

Die Abende verbringe ich meistens vor dem Fernseher oder dem Computer. Oft gehe ich auch nochmal vor die Tür. Es gibt in dieser Gegend aber auch wahnsinnig viel zu entdecken.

Aufdringliche Labertaschen lauern überall

Auf engere Kontakte mit anderen Patienten habe ich es nicht abgesehen. Das war bei meiner ersten Reha fünf Jahre zuvor auch schon so. Dennoch komme ich mit einigen zwangsläufig öfter zusammen, allein schon wegen des festen Platzes im Speisesaal und dem dadurch immer gleichen Tischnachbarn. Auch bei diversen Anwendungen laufen einem immer wieder die gleich Gesichter über den Weg. Die meisten sind ebenfalls zurückhaltend und höflich. Manchen aufdringlichen Zeitgenossen kann man sich allerdings nur schwer entziehen.

Wie im richtigen Leben gibt es auch innerhalb des Mikrokosmos Rehaklinik die unterschiedlichsten Charaktere. Es gibt die Labertaschen, die einem unaufgefordert sofort die ganze Lebens- und Leidensgeschichte erzählen. Es gibt die Aufdringlichen, die keine Gelegenheit ungenutzt lassen und einen über die eigene Krankheitsvergangenheit ausquetschen wollen. Dann wären da die Schweigsamen, die selbst nach drei Wochen Gruppentherapie immer noch gar nichts sagen. Nicht zu vergessen die Singles, die bei jeder Walking-Einheit mit einem anderen Patienten oder einer anderen Patientin flirten. Lustig sind auch die Wiederholungstäter, die die Klinik bereits von einem früheren Aufenthalt in- und auswendig kennen. („Mussten Sie hier schonmal zum Wiegen?“ – „Jaja, ich war letztes Jahr schon mal hier.“) Es gibt schusselige Omas, schlurfende Opas, genervte Mitdreißiger und lächelnde Kehlkopfamputierte. Und warum sich hier so viele Mädchen-Gangs gebildet haben, weiß ich auch nicht. Doch die meisten sind nett und freundlich. Viele nehmen sich Zeit und Raum für sich und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Krebs verbindet und der gemeinsame Erfahrungsaustausch tut gut. Doch manche Dinge muss man einfach mit sich allein ausmachen.

Um nach dem frühen Abendessen einem später aufkommenden Hungergefühl anständig entgegentreten zu können, genehmige ich mir vor dem Fernseher noch eine oder zwei Portionen Obst. Vielleicht auch mal einen Keks, aber das war es dann auch.

Morgen habe ich meinen ersten Termin erst um 10.15 Uhr. Dabei kommt mir ein Satz aus dem Begrüßungsschreiben der Klinik in den Sinn: „Während der Reha können Sie sich mit sich selbst befassen und lernen, Ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen.“ Und so beschließe ich, morgen meine Bedürfnisse wahrzunehmen, indem ich das Frühstück ausfallen lasse und länger schlafe.

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