Der Bahnhof meiner Stadt ist nichts besonderes. Ich nenne ihn gerne unseren Hauptbahnhof, obwohl er der einzige ist, den wir haben. Aber er hat alles, was Reisende brauchen: Vier Bahnsteige, eine Wartehalle, einen Fahrkartenautomaten, einen Süßigkeitenautomaten und einen winzig kleinen Kiosk. Und vor diesem Kiosk spielt sich jeden Morgen der Überlebenskampf der Berufspendler ab, die zur Arbeit in eine der nächsten größeren Städte fahren müssen.
Die meisten dieser Arbeitsnomaden halten sich morgens zwischen halb sieben und sieben Uhr am Bahnhof auf. Der erste Zug in die nächstgrößere Stadt fährt um kurz nach sieben und wer vorher noch ein hastiges Frühstück benötigt, sollte sich rechtzeitig an die Schlange am kleinen Kiosk anstellen. Die meisten Pendler wissen das. Sie machen das bereits seit Jahren und haben ihre Rituale vor dem Einsteigen in den Zug perfekt geplant.
Auch der Betreiber des winzigen Kiosks hat sich darauf eingestellt und sich über die Jahre den Bedürfnissen der Pendler angepasst. An die einfachen Bedürfnisse, muss man dazu sagen, denn die Entwicklung der vergangenen Jahre und der Trend hin zu Funktionalität ohne Luxus hat dazu geführt, dass es nur noch drei Artikel in diesem Kiosk zu kaufen gibt: die Tageszeitung, frischer Kaffee und belegte Brötchen.
Da sich die Pendler nur zwischen diesen drei Waren entscheiden müssen, geht der eigentliche Kaufvorgang ziemlich schnell über die Bühne. Wenn jemand einmal etwas spät dran sein sollte, muss er nicht vor der langen Schlange zurückschrecken. Eigentlich ist sie immer in Bewegung und die Kunden erhalten ihren Kauf fast schon im Vorübergehen. Es ist eine sehr rhythmische Angelegenheit, die aus Vorwärtsgehen, Bestellen, Bezahlen und Ware annehmen besteht. Sehr diszipliniert. Fast schon militärisch.
Die Überschaubarkeit des Warenangebots hat außerdem dazu geführt, dass auch der Bestellvorgang ziemlich knackig absolviert wird. Der Kioskbetreiber, der hinter dem kleinen Fenster fast den gesamten Raum seines telefonzellengroßen Arbeitsplatzes einzunehmen scheint, redet heutzutage fast gar nicht mehr. Vor einiger Zeit hat er noch gefragt: „Zeitung? Kaffee? Brötchen?“
Der Kunde hat meistens nur genickt oder den Kopf geschüttelt oder „Ja, Ja, Nein“ gesagt. Das bedeutete, dass er eine Zeitung und einen Kaffee, aber kein Brötchen haben möchte.
Später wurde dieser Dialog vereinfacht, indem der Kunde ohne eine Begrüßung einfach nur „Zeitung und Kaffee“ sagte. Vor kurzem sind die Pendler noch einen Schritt weiter gegangen. Zu Anfang war es nur ein wagemutiges Projekt einzelner Kunden, doch mittlerweile haben alle anderen das neue Kommunikationsmodell übernommen.
Wer jetzt an der Reihe ist, sagt beispielsweise einfach nur noch „Ja, Nein, Nein“, wenn er nur eine Zeitung haben möchte oder zum Beispiel „Nein, Ja, Ja“, falls er auf die Zeitung verzichten und nur einen Kaffee und ein Brötchen mitnehmen will.
„Ja, Ja, Ja“ steht somit für das volle Programm. Und wer „Nein, Nein, Nein“ sagt, sollte sich fragen, warum er sich überhaupt angestellt hat.
So ging das lange Zeit gut. Jeden Morgen versammelten sich die Pendler vor dem Kiosk und vollführten ihren Frühstückstanz: Einen Schritt vor, bestellen, Geld, Ware, Wechselgeld und Abgang. Es raschelte, es tippelte, die Geschäftsleute hatten schon erste Handygespräche am Ohr und immer wieder „Ja, Ja, Nein, Ja, Nein, Ja, Nein, Nein, Ja“ wie ein ganz besonderer Morsecode.
Eines Tages wurde diese friedliche Perfektion jedoch gestört. Es war der Tag, an dem sich vier junge Leute an die Warteschlange vor dem Kiosk anstellten. Wie sich später herausstellte, handelte es sich dabei um Fotografie-Studenten einer Kunsthochschule, die in meine Stadt gekommen waren, um in der Provinz auf die Suche nach außergewöhnlichen Fotomotiven im Morgengrauen zu gehen. Sie waren extra früh angereist, mit dem ersten Zug, der in meiner Stadt hielt und bevor sie mit ihrer Arbeit begannen, wollten sie sich am Kiosk noch ein hastiges Frühstück holen.
Die Studenten, drei Jungs in lässigen T-Shirts und ein hübsches, schlankes, blondes Mädchen, reihten sich zwischen den wartenden Pendlern ein und hatten die Choreografie des Frühstückstanzes schnell drauf. Allerdings schienen sie nicht mitbekommen zu haben, dass sich das Warenangebot an drei Fingern abzählen ließ.
Als die Gruppe an der Reihe war, sagte einer der Jungs zum Kioskbetreiber: „Morgen. Vier Kaffee schon mal und für mich ein Brötchen.“
Soweit, so gut. Doch dann ging’s los.
„Und was wollt ihr?“, fragte der Junge seine Mitstudenten.
„Also ich hätte lieber eine Apfelschorle und keinen Kaffee“, sagte das Mädchen. „Und zu Essen reicht mir ein Müsliriegel mit Cranberries.“
„Haben Sie auch Butterkekse?“, fragte einer der anderen Jungs.
Plötzlich war es mucksmäuschenstill in der Bahnhofshalle.
Einige der Wartenden blickten entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen auf die Gruppe. Die, die weiter hinten standen, stellten sich wie Erdmännchen auf die Zehenspitzen und reckten die Hälse, um zu sehen, was da weiter vorne los war.
Auch der Kioskbetreiber war irritiert. Seit Jahren war durch das Kioskfenster von dem Mann nur der Bereich zwischen Bauchnabel und Oberlippenbart zu sehen. Niemand kannte seine Augenfarbe.
Jetzt sank der Kopf des Verkäufers hinter dem Fenster langsam nach unten und zwei dunkelbraune Augen über einer handelsüblichen Knollennase blickten auf die Studenten.
„Zeitung? Kaffee? Brötchen?“, fragte er.
„Kaffee und Brötchen klingt toll, aber haben sie denn nichts anderes?“
Unter den Wartenden brach Panik aus. Die Geschäftsleute wurden vor Schreck bleich im Gesicht und blickten hektisch zwischen Armbanduhr und Smartphone hin und her. Einigen gelang es, eine Nummer zu wählen.
„Fräulein Schneider? Sagen Sie meinen 11-Uhr-Termin ab! Es gibt hier einen Zwischenfall! Ich komme später“, brüllte einer ins Telefon.
„Schatz, gib den Kindern einen Kuss von mir. Ich komme heute Abend sehr spät nach Hause“, sagte ein anderer mit zitternder Stimme.
Die Lage entspannte sich nur langsam. Nachdem die Studenten sich schließlich mit viermal Kaffee und Brötchen zufrieden gaben, schien der Konflikt abgewendet. Doch dann erkundigte sich das Mädchen tatsächlich nach Süßstoff! Ein älterer Herr im gestreiften Anzug verdrehte die Augen und brach bewusstlos zusammen. Ein anderer murmelte die ganze Zeit „Oh Gott, oh Gott, was für ein Albtraum…“
Nachdem der Krankenwagen eingetroffen war, dackelten die Studenten verwirrt von dannen. Immer wieder blickten sie zum Bahnhof zurück und schüttelten die Köpfe. Wortfetzen wie „Komisches Kaff…“ und „Alle irre…“ wehten herüber.
Der ältere Herr erholte sich bald von seinem Zusammenbruch, nahm den Rest des Tages aber frei. Die übrigen Pendler versuchten, ihren normalen Tagesablauf wieder aufzunehmen. Einer kam fast zweieinhalb Stunden zu spät zur Arbeit, weil er aus Versehen in den falschen Zug gestiegen war und das erst nach 40 Minuten merkte.
Es dauerte fast eine Woche, bis sich der Kundenverkehr an dem kleinen Kiosk wieder normalisiert hatte. Seit dem Ereignis hat der Kioskbetreiber einen Defibrillator unter seinem Tresen und daneben einen Alarmknopf mit direktem Draht zum Krankenhaus. Außerdem frischt er jetzt jedes Jahr seine Erste-Hilfe-Kenntnisse auf.
Wer heute den kleinen Kiosk an unserem Bahnhof besucht, dem wird im ersten Moment nichts besonderes auffallen. Doch wer ganz genau aufpasst, der kann in den alten Ecken des Gemäuers eine Stimme ganz leise „Süßstoff“ wispern hören…
[…] U-Bahn kommt um 18.14 Uhr. Die Menschen drängen hinein. So nah am Hauptbahnhof ist immer viel los. Sechs Minuten später und zwei Stationen weiter steige ich wieder aus. Alles […]
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[…] früh kamen die Schwarzblocks am Hamburger Hauptbahnhof an, gerade rechtzeitig zur Eröffnungsfeier. Die Polizei hatte extra alles abgesperrt, damit die […]
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[…] Stress, weil er seine Bahn nicht verpassen wollte? Und vorher noch Zeitung, Kaffee und Brötchen am Bahnhofskiosk kaufen […]
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[…] Zeit später entnahm ich der Anzeigentafel in der Bahnhofshalle konkretere Hinweise auf die Zustände im Zug. Hinter der Verbindung lief folgendes Band […]
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[…] aus. Während mir die Einkäufe zum Auto getragen werden, grüße ich das Verkäuferhologramm am Bahnhofskiosk. Wir kennen […]
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[…] Früh morgens konnte ich mich noch auf meine ausgeschlafenen Sinne verlassen und radelte zum Bahnhof wie im Schlaf. Die Nummer des Gleises konnte ich zwar nicht erkennen, doch wie durch ein Wunder […]
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[…] studierten wir Immobilienanzeigen. Jeden Samstag radelte ich zum Bahnhof und kaufte dort Tageszeitungen, die ich noch nie zuvor in der Hand hatte. Jedes Mal nach dem Geld […]
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[…] schlug ich mich aber gar nicht so schlecht. An meinem Heimbahnhof lächelten mir zum Abschied alle zu. Einer stieg ebenfalls mit mir aus. „Schönes Wochenende“, […]
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[…] Tag mit dem Zug in die nächste große Stadt zur Arbeit fahre und dieser Donutladen ausgerechnet am Bahnhof meines Arbeitgeberortes eröffnete. Ich sah ihn also jeden Tag. Und ich ging jeden Tag an ihm […]
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[…] und sofort die kurze Treppe zum Bahnsteig erklimmen. Meistens habe ich sogar noch Zeit, um mich mit Kaffee, Brötchen und Zeitung zu versorgen. Etwas verschwitzt bin ich dann auch, doch die paar Minuten Wartezeit auf den Zug […]
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