Menschen ohne Eile haben am Bahnhof nichts verloren! (5:00)

Um 17.57 Uhr schaue ich zum ersten Mal auf die Uhr. Noch ist es viel zu früh für Feierabend. Ich kann meinen Text nochmal durchgehen und auf Fehler prüfen. „Glatt ziehen“, wie es in der Textersprache heißt. Wenn ich einen Text schreibe, tippe ich meistens einfach drauf los. Um den finalen Schliff kümmere ich mich später, manchmal erst am nächsten Tag, wenn ich die Zeit dafür habe. Oft sind es nur Kleinigkeiten, die dann geändert werden müssen. Manchmal fehlen aber auch ganze Wörter. Mitten im Satz. Wo die abgeblieben sind, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich habe ich mal wieder schneller gedacht als geschrieben. Den Text, den ich gerade vor mir habe, prüfe ich gewissenhaft, auch so kurz vor Feierabend.

Um 18.03 Uhr gehe ich nochmal auf die Toilette. Der Zug hat zwar auch eine, doch die im Büro, mit festem Boden unter den Füßen, ist mir lieber.

Um 18.05 Uhr gebe ich dem letzten Absatz meines Textes noch das gewisse Etwas. Der Leser muss schließlich mit einem positiven Gefühl aus dem Text herausgehen und sollte im Anschluss im besten Fall das Produkt kaufen. Er sollte es zumindest nicht aus dem Gedächtnis verlieren und es mit unserer Firma in Verbindung bringen. Das freut dann auch den Chef. Und wenn der Chef sich freut, freut sich der Texter.

Aus 120 Wörtern werden in Windeseile 500. In Nullkommanichts beschreibe ich nicht nur die Funktionen und Eigenschaften des Produkts, sondern auch Farbe, Form, Haptik und sensomotorische Audiovisualität. Eine kulturhistorische Analyse darf natürlich auch nicht fehlen, inklusive Entstehungsgeschichte und genderübergreifender Einordnung. Am Ende habe ich alle SEO- und SEA-Kriterien erfüllt. Google wird den Text lieben. Und wenn Google verliebt ist, sind auch meine Chefs verliebt.

Es ist 18.10 Uhr, als ich den Rechner herunterfahre, meine Sachen packe und das Gebäude verlasse. Um 18.12 Uhr stehe ich nur wenige Schritte entfernt am Bahnsteig der U-Bahn-Haltestelle. Noch ist die Lage entspannt.

Die U-Bahn kommt um 18.14 Uhr. Die Menschen drängen hinein. So nah am Hauptbahnhof ist immer viel los. Sechs Minuten später und zwei Stationen weiter steige ich wieder aus. Alles strömt hinaus und die Treppen hoch Richtung Bahnhofshalle. Wie immer ist die Hölle los. Ich verlasse den Zugang zu U1 und U3. Rechts geht’s zur S-Bahn, dahinter zu U2 und U4, geradeaus zu den Fernzügen.

Alle wollen irgendwohin, kommen an, wollen weg. Bleiben stehen, rennen los. Drehen um, schauen sich um. Kaufen was zu essen, schauen nach Blumen. Trolley von links, Trolley von rechts. In der Mitte ein Klapprad. Ich weiche den Hindernissen geschickt aus. Leichtfüßig wie ein Ninja tänzele ich zwischen den Menschen hin und her. Ich springe über ein Kind auf einem Bobby-Car und gleite unter einer Hundeleine hindurch. Aus dem Nichts taucht vor mir ein Rentnerpärchen mit Stadtplan auf. Mit einem Ausfallschritt meistere ich auch diese Hürde und ducke mich anschließend unter einem ausgestreckten Arm mit Kaffeebecher hindurch.

Die meisten Menschen in einem Bahnhof haben es eilig. Viele aber auch nicht. Im dichtesten Gedränge sind sie die Ruhe in Person. Müssen sich nach der Rolltreppe erst mal orientieren und bleiben mit riesigen Koffern mitten im Weg stehen. Manche spazieren. Gemächlich. An einem Freitagabend. Wie auf einem Ausflug. Sind die etwa nicht in Eile? Das ist doch hier ein Bahnhof! Da herrscht Tumult. Dynamik. Wer nicht in Eile ist, hat doch auf einem Bahnhof nichts zu suchen!

Um 18.24 Uhr habe ich die Bahnhofshalle erreicht, um 18.26 Uhr den Bahnsteig am anderen Ende. Um 18.27 Uhr betrete ich den Zug. Eine Minute vor Abfahrt. Pünktlich wie die Maurer, wie man so schön sagt.

Ich finde einen freien Platz und lasse mich in den Sitz fallen. Meine Jacke hängt am Haken, meine Tasche steht neben mir. Alles bestens.

Um 18.30 Uhr stehen wir immer noch. Die Lautsprecher im Zug knacken, dann sagt eine Stimme: „Verehrte Fahrgäste, unsere Abfahrt wird sich noch um circa 20 Minuten verzögern. Wir hatten einen Personalwechsel und der Lokführer ist noch nicht da.“

Hätte der Kerl auf dem Weg zur Arbeit nicht etwas mehr in Eile sein können?, denke ich. Der müsste doch wissen, wie das an einem Bahnhof so läuft.

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