105 Minuten (5:30)

Als der Zug mit der Durchsage „Wir erreichen jetzt den Bahnhof Celle mit einer Verspätung von ca. 15 Minuten“ in den Bahnhof Celle einrollte, brach ich auf meinem Sitz zusammen.

„15 Minuten!“, keuchte ich, während ich zusammengekrümmt langsam nach unten glitt und schließlich in Fötushaltung auf dem Fußboden des Großraumabteils zum Liegen kam.

„15… 15 Minuten…“, brabbelte ich leise vor mich hin. Ich konnte mich vor Lachen nicht halten. Immer wieder durchzuckten mich krampfartige Anfälle und ich schlug mit der flachen Hand auf den Boden.

Mit hochrotem Kopf und tränenüberströmtem Gesicht lag ich da. Die übrigen Fahrgäste schauten besorgt in meine Richtung. Ein paar andere, die auch gerade aussteigen wollten, standen ratlos im Gang, denn ich versperrte Ihnen durch meinen Lachanfall den Weg nach draußen.

Ein älterer Herr half mir schließlich hoch. Durch einen Tränenschleier blickend und immer noch unkontrolliert kichernd schaffte ich es gerade so, meine Jacke und meine Tasche zu nehmen und auszusteigen. In der Tür war extra jemand stehengeblieben und hatte dem Zugbegleiter signalisiert, dass es hier einen Zwischenfall gab. Ein anderer hatte sogar schon die Notbremse in der Hand, die er dann aber doch nicht auslöste, als er sah, wie ich wieder aufstand.

Auf dem Weg nach draußen prustete ich noch einige Male verhalten vor mich hin und erntete dafür von einigen anderen Fahrgästen ärgerliche Blicke. Wir waren doch eh schon so spät dran! 15 Minuten!

Und wieder lachte ich schrill auf und wäre auf den Stufen hinaus fast kopfüber nach unten gefallen.

„15 Minuten!“, kreischte ich und konnte mich auf dem Bahnsteig gerade noch so an einem Laternenpfahl festhalten, um auf der anderen Seite nicht gleich wieder ins Gleisbett zu stürzen.

An der frischen Luft beruhigte ich mich wieder etwas und mein Geist klarte auf. 15 Minuten – in meinen Augen ein Witz. Für mich waren es an diesem Abend nämlich rund 105 Minuten, die ich zu spät zu Hause ankam.

Kaum war ich nach Feierabend in Hamburg in den Intercity gestiegen, eröffnete die Zugbegleiterin allen Fahrgästen, dass dieser Zug an diesem Abend nicht die gewohnte Route über Lüneburg und Uelzen nehmen, sondern wegen einer Oberleitungsstörung über Rotenburg und Verden umgeleitet werden würde. Für mich bedeutete das eine Fahrt ohne Halt bis nach Hannover, wo ich dann in den Regionalzug zurück nach Celle umsteigen musste und ca. eineinhalb Stunden später als sonst zu Hause ankam. So weit, so gut. Kann man mal machen. Hannover ist ok und ohne solche Ausreißer würde ich die Stadt viel seltener besuchen. Es war auch nicht das erste Mal, dass ich diesen Umweg in Kauf nehmen musste. Alles gut. Noch.

Bei der Einfahrt in den Bahnhof Hannover gut zwei Stunden später war auch noch alles ok. Die Zugbegleiterin verabschiedete sich freundlich und zeigte mir sogar noch den Regionalzug, der ein paar Gleise weiter bereits zu sehen war und auf Fahrgäste wartete. Ich stieg dort ein, stöpselte mir Heavy Metal ins Ohr und freute mich darauf, in ca. 25 Minuten zu Hause zu sein.

Kurz darauf knackte es in den Lautsprechern und eine Männerstimme verkündete, dass sich die Abfahrt dieses Zuges um ca. 30 Minuten verspäten würde, weil sich der Lokführer noch auf der Strecke befand und wegen der Oberleitungsstörung, die ja auch schon den Intercity zur Umleitung gezwungen hatte, nicht weiterkam.

Ich hastete wieder aus dem Zug und rannte sechs Gleise weiter, denn ich wusste, dass ungefähr um diese Zeit noch eine S-Bahn in meine Richtung fahren sollte. Tat sie auch. Allerdings schon vor zwei Minuten. Verschwitzt und verärgert kehrte ich zum Regionalzug zurück und nahm meinen Platz von eben wieder ein.

Der Zug fuhr dann glücklicherweise nicht erst mit 30, aber doch immerhin mit 15 Minuten Verspätung los, die er auf der kurzen Strecke bis Celle leider nicht mehr aufholte. In den Augen des Zugbegleiters in diesem Zug waren es also tatsächlich nur 15 Minuten Verspätung. Für mich dagegen wie gesagt 105.

An dem Laternenpfahl auf dem Bahnsteig in Celle musste ich mich mehrere Minuten lang abstützen, bis ich wieder in der Lage war, weiterzugehen. Als ich an der Anzeigentafel vorbeikam, war auf ihr immer noch der Regionalzug von eben zu lesen. Dazu die Information „ca. 15 Minuten später“. Wieder durchzuckten mich Blitze und es schüttelte mich erneut ein krampfartiger Lachanfall. Ich konnte gar nicht aufhören, zu kichern und ließ mich auf eine Sitzbank fallen.

Ich blickte auf und mir wurde schwindelig. Ich sah überall nur bunte Farben und verschwommene Gestalten. Unten war plötzlich oben, ich sah alles doppelt und meine Stimme und andere merkwürdige Geräusche hallten blechern in meinem Kopf wieder. Dann wurde es dunkel. Ich spürte einen Stoß und hörte einen dumpfen Aufprall. Dann nichts mehr.

Irgendwann bin ich dann hier wieder aufgewacht, in diesem weißen, gepolsterten Raum ohne Fenster. Nur eine Tür gibt es und einen Spiegel. Leider muss ich jetzt aufhören zu schreiben, denn gleich kommen die Pfleger und fixieren mich wieder an mein Bett. Oh, da sind sie schon. Hoffentlich werde ich hier bald wieder entla

8 Gedanken zu „105 Minuten (5:30)

  1. Komisch… meine letzte Fahrt „verlief“ soweit ohne Komplikationen, aber es waren auch kaum Fahrgäste dabei. Na gut, ein paar.. der Waggong war nicht ganz voll.. leider waren wir echt schnell da. Das war irgendwie total unheimlich, ich konnte es eigentlich nicht fassen. Aber das ist auch nur, weil ich immer nur dann losfahre, wenn es nachweislich angeblich wahrscheinlich keine Komplikationen bei der Bahn geben wird. Daher reise ich auch nur noch ganz selten. Loool…
    Viel Glück mit den Pflegern, ich hoffe sie haben Verständnis (falls sie ebenfalls pendeln müssen, bestimmt.)

    Gefällt 1 Person

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