Im Bett nebenan meckert Bertram (6:45)

Es kracht und scheppert überall um mich herum. Holz knirscht, Äste brechen, Erde wird aufgewühlt, der Boden bebt. Ein Baum nach dem anderen muss dran glauben. Klein oder groß, dick oder dünn – Die Säge macht keinen Unterschied. Gnadenlos gräbt sie ihre Zähne in die Stämme und beschert von Setzling bis Baumriese jedem Gewächs ein jähes Ende. In den Wipfeln beginnt die Erschütterung, während sich die Motorklinge unaufhaltsam von der Rinde bis zum Kern des Stammes frisst. Einen Augenblick scheint der stolze Stamm noch in der Luft zu schweben. Dann kippt er wie in Zeitlupe zur Seite, reißt im Fallen die Äste der benachbarten Bäume mit sich und stürzt unter lautem Getöse zu Boden, wo er sich noch einmal kurz aufbäumt und nach einem letzten Zittern schließlich liegenbleibt. Die Säge ist immer noch hungrig und nimmt sich sofort den nächsten Baum vor. Mit jedem neuen Anlauf scheint sie lauter zu werden.

Es ist ein ohrenbetäubender Lärm und ich bin mittendrin. An Schlaf ist nicht zu denken. Kurz winde ich mich noch hin und her, versuche, den Krach mit meinem Kopfkissen von meinen Ohren abzuwenden, doch es ist sinnlos. Ich bin wach und öffne die Augen.

Die Bäume verschwinden, doch die Säge bleibt. Sie heißt Herr Bertram und liegt in meinem Krankenzimmer nur ein Bett weiter. Es ist mitten in der Nacht. Herr Bertram liegt auf dem Rücken und schnarcht sich mit einer solchen Inbrunst den Schleim durch die Nebenhöhlen, dass ich es nicht besser als mit dem tausendfach zitierten Zersägen ganzer Regenwälder im Amazonasgebiet vergleichen kann. Ich verstehe nicht, warum nicht schon längst Greenpeace hier aufgetaucht ist und in einem Umkreis von zwei Metern um mich herum ein Lärmschutzgebiet eingerichtet hat. Wenigstens draußen auf den Fluren des Krankenhauses sollte sich langsam Protest gegen diese Art von Nachtruhezerstörung formieren, doch nichts passiert. Selbst der dritte Patient im Zimmer scheint sich durch die Attacke nicht gestört zu fühlen und säuselt im Schlaf leise vor sich hin.

Ich bin jedoch nicht wehrlos. Ich habe mir am Abend eine Waffe gegen die zu erwartende Attacke zurechtgelegt, denn bereits in der Nacht zuvor hatte sich Herr Bertram als leidenschaftlicher Weltenzersäger mit einem erstaunlichen Durchhaltevermögen präsentiert. An meinem metallenen Rollschrank neben dem Krankenbett hängt seit gestern ein Kleiderbügel, den ich nun ergreife und zwei-, drei-, viermal gegen den Rollschrank von Herrn Bertram bollere. Ich muss die Prozedur mehrere Male wiederholen, bis der Meister seine Arbeit an der Säge einstellt und zumindest solange Ruhe gibt, bis ich mit meinen Ohrstöpseln im Ohr bis zur morgendlichen Visite einen einigermaßen durchgehenden Schlaf finde.

Auch bei Helligkeit ist Herr Bertram keiner dieser Zeitgenossen, die ich gerne mit auf eine einsame Insel nehmen würde. Pünktlich zu besagter Visite aktiviert der betagte Rentner sein Sprachzentrum und schreckt nicht vor fachlichen Diskussionen mit dem Chefarzt zurück.

„Herr Bertram, Ihr Blutdruck ist viel zu hoch. Warum nehmen Sie denn die Tabletten nicht?“

„Ja, das ist ja bei jedem Menschen unterschiedlich! Letztens habe ich das erst im Fernsehen gesehen. Die haben da gesagt, dass viele Ärzte noch in alten Grenzen denken, was den Blutdruck angeht. Früher galt das vielleicht mal als zu hoch. Heute aber nicht mehr. Das muss ich doch selbst am besten wissen, oder?“

„Herr Bertram, Sie trinken zu wenig. Sie müssen mindestens zwei Liter Wasser am Tag zu sich nehmen.“

„Ja, aber das bin ich ja gar nicht gewohnt! Wie soll ich denn auf einmal so viel Wasser trinken, wenn ich normalerweise zu Hause nicht so viel trinke? Mir reicht eigentlich ein Liter am Tag. Und jetzt muss ich mir das hier reinquälen, das ist doch nicht normal! Deswegen schwitze ich auch so doll, weil ich so viel trinken muss! Das ist wie bei einem Schwamm. Irgendwann ist der vollgesogen und dann trieft es überall nur so wieder hinaus!“

Der Chefarzt lächelt nur und nickt und verlässt nach der Visite wieder das Zimmer. Die pochende Ader auf seiner Stirn ist anscheinend nur mir aufgefallen.

Den Höhepunkt seiner Show hebt sich Herr Bertram für den Besuch der Mitarbeiterin aus der Küche auf. Die Dame dreht regelmäßig nach dem Frühstück ihre Runde durch die Zimmer, um die Essensbestellung für den kommenden Tag aufzunehmen.

„Herr Bertram, Frühstück kann bei Ihnen so bleiben?“

„Ja, hören Sie mal, was soll denn das hier mit den Messern? Ich kann ja verstehen, dass Sie hier nur stumpfe Messer verteilen, aus Sicherheitsgründen und so, aber die Brötchen sind ja so weich, die kriegt man damit ja gar nicht aufgeschnitten. Ich musste die mit den Händen auseinanderreißen und hatte das ganze Zeug dann an den Fingern. Und der Quark ist mir da immer runtergerutscht.!“

„Das müssen sie dann den Schwestern sagen, damit die ihre Brötchen vorher aufschneiden.“

„Hab ich ja! Das ging auch zwei Tage gut, aber jetzt nicht mehr. Und bei ihm da drüben“, er deutet auf mich, „haben sie die noch nie aufgeschnitten!“

„Was darf es denn zum Mittag sein?“

„Ja, das Essen gestern war ja eine reine Provokation! Das war doch kein Kartoffelsalat! Da haben sie einfach nur eine Kartoffel aufgeschnitten und Mayonnaise drüber geklatscht und fertig. Nicht mal umgerührt! Und keine Gewürze dran! Salz, Pfeffer oder mal eine Zwiebel müssen da rein. Eine reine Provokation, sage ich! Und vorgestern genauso. Ich hatte extra gesagt, dass ich kein Fleisch und keinen Fisch esse und was finde ich dann in meinem Omelette? Pilze! Die mag ich auch nicht!“

Die Küchendame lächelt nur und nickt und wendet sich anschließend mir zu. Während sie mich fragt, ob das Frühstück so bleiben kann, schwillt ihre pochende Ader auf der Stirn langsam wieder ab. Kurz überlege ich, ob ich mich auch über das Essen beschweren soll, denn von einem Sternekoch stammt das sicherlich nicht. Allerdings habe ich nach nur zwei Tagen begriffen, was man aus der hiesigen Küche bestellen kann und was besser nicht. Und das eine oder andere Gericht war gar nicht so verkehrt. Ich spüre die bohrenden Blicke von Herrn Bertram, während ich mir meine Antwort zurechtlege. Sind wir Verbündete oder schlage ich mich auf die Seite des Krankenhauses? Die gute Seite. Die Seite, die mich wieder gesund macht, sich 24 Stunden um mich kümmert und ganze Nächte wach bleibt, falls ich etwas brauche. Die Seite mit den stets lächelnden Schwestern und den kompetenten Ärzten, die versuchen, mir den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu gestalten.

„Bei mir ist alles gut, vielen Dank“, sage ich. „Allerdings ist die Gesellschaft hier eine reine Provokation!“

10 Gedanken zu „Im Bett nebenan meckert Bertram (6:45)

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..