Schwester! Die Sonne! (6:00)

Die Sonne ballerte mir auf die Birne und ich war verzweifelt, weil ich nichts dagegen tun konnte. Ich lag nämlich seit einigen Tagen in einem Krankenhausbett und musste mir jede Bewegung genauestens überlegen.

Es war Anfang September. Ein September, der ungewöhnlich sommerlich zu werden schien. Ich konnte ihn nur durch das Fenster meines Krankenzimmers beobachten, denn vor wenigen Tagen war ich im Zuge meiner Krebserfahrung zum ersten Mal operiert worden und durfte noch nicht raus. Vor wenigen Tagen war auch mit der Sonne noch alles in Ordnung. Vor dem Fenster meines Zimmers konnte sie sich ungestört austoben, weil eine Markise mich vor direkter Bestrahlung beschützte. Dann folgten ein paar Tage mit vielen Wolken, woraufhin die Stationsleitung den Sommer für beendet erklärte und einen Pfleger durch alle Zimmer schickte, der die Markisen in die Winterposition zurückschraubte. Das war gestern. Und heute Vormittag kam die Sonne natürlich wieder heraus und strahlte seitdem fröhlich und ungehindert durch die Krankenhausfenster. So ist das ja immer. Nehme ich meinen Regenschirm mit, brauche ich ihn nicht.

Bis zum Mittag kam ich mit dem schönen Wetter vor meinem Fenster auch noch gut klar. Dann aber schob sich die Sonne immer weiter zu mir herüber und strahlte schließlich ungehindert durch die Scheibe. Zuerst noch in einem Winkel, dem ich durch leichte Positionsveränderungen im Bett entgehen konnte. Mal spendete das Fensterkreuz etwas Schatten, dann eine günstig positionierte Schrankecke.

Minutenlang war ich damit beschäftigt, meinen Körper von der Hitze der Sonneneinstrahlung fernzuhalten. Meine Decke hatte ich bereits zur Seite gelegt und so vollführte ich in meinem Patientennachthemd eine akrobatische Haltefigur nach der nächsten. Meine Zimmergenossen bekamen von all dem nichts mit. Beide lagen auf der vom Fenster abgewandten Seite des Raumes und konzentrierten sich auf den Fernseher.

Nach einiger Zeit hatte mich die Sonne voll erfasst und ich fand keine Position mehr, in der ich wenigstens ein kleines bisschen Schatten abbekam. Ich schwitzte. Noch mehr als vorher. Und das war mir schnell unangenehm, zumal ich mich als frisch Operierter nicht mal eben ausgiebig unter die Dusche stellen durfte.

Ich musste handeln. Also doch aufstehen. Dass es funktionieren würde, bezweifelte ich nicht, schließlich war ich seit der OP bereits mehrere Male zum Verbandswechsel im Behandlungsraum gewesen und hatte auch schon die Toilette aufgesucht. Doch Aufstehen war immer noch nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Nach zwei Ausflügen ins Bad war ich meistens für den Rest des Tages bedient. Doch ein bisschen bewegen konnte ich mich, womit das Drücken der Klingel, mit dem ich die Schwester hätte bitten können, die Gardine zu schließen, in dieser Situation nicht gerechtfertigt war.

Ich schwang mich also aus dem Bett, stellte mich langsam auf die Beine und stakste vorsichtig ans Fenster. Es war mit einer dieser geschäftsmäßigen Gardinen versehen, einem dieser Lamellenvorhänge, bei dem man an verschiedenen Strippen ziehen muss, um sie auf- und zuzumachen oder die Elemente zu drehen. Ich zog mehrfach an jeder Schnur, wechselte auch mal die Richtung und zupfte schließlich hilflos an den Seilen herum. Nichts tat sich. Das Lamellending war anscheinend kaputt. Und ich verzweifelt. Was konnte ich jetzt noch tun? Doch die Schwester herbeiklingeln? Oder einfach warten, bis die Sonne vorbeigezogen war?

Ich entschied mich für letzteres, taperte in eine schattige Ecke des Zimmers und blieb dort einfach stehen. Ich hätte mich auch auf einen Stuhl setzen können, doch ich empfand das Stehen nach so viel Liegen im Bett als willkommene Abwechslung.

Einige Zeit lang beobachtete ich das Sonnenlicht auf meinem Kopfkissen. Allein durch die Betrachtung der gleißend hellen Strahlen wurde mir wieder warm. Doch von Schatten war weit und breit nichts zu sehen. Wie lange müsste ich hier stehen, bis die Sonne weit genug weggezogen war? Eine halbe Stunde? Eine ganze? Meine Zimmergenossen ließen sich von meiner Aktion nicht beeindrucken. Der eine war eingeschlafen, der andere starrte auf seinen Fernseher und hatte mit dem Loch in seiner Blase wahrscheinlich andere Probleme als zu viel Sonne im Leben.

Gerade, als bei mir die Phase „So kann es doch nicht weitergehen“ begann, öffnete sich die Zimmertür und eine Schwester kam herein, um Thrombosespritzen zu verteilen. Ich bat sie, dem Hausmeister bitte Bescheid zu geben, dass die Vorhänge in diesem Zimmer kaputt seien. Sie stutzte, trat ans Fenster und zog an den Schnüren. Sie zog und zog… und nach bestimmt zwölf Metern Schnur, die durch die Konstruktion rotiert sein mussten, bewegte sich der Vorhang tatsächlich. Einmal in Fahrt dauerte es nur wenige Augenblicke, bis die Lamellen die Sonneneinstrahlung ausgesperrt hatten. Ich bedankte mich überrascht und legte mich zurück ins Bett. Die Temperatur auf meinem Kopfkissen war schlagartig zurückgegangen, sodass ich mir ganz entspannt wieder eine angenehme Position aussuchen konnte.

Zufrieden nahm ich meine Spritze entgegen und freute mich aufs Abendbrot. Ich fragte mich, ob es diese Lamellenvorhänge auch in einer schalldichten Variante gibt. Wenn ja, hätte ich gerne einen zwischen meinem Bettnachbarn und mir gehabt. Wie der hier nachts sämtliche Wälder Norddeutschlands zersägte, grenzte schon fast an Körperverletzung.

10 Gedanken zu „Schwester! Die Sonne! (6:00)

    1. Na toll, jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen! Hatte die Blattgoldtorte schon in der Hand, fand das dann aber doch etwas übertrieben. Habe einfach nur Danke gesagt, als ich entlassen wurde. Und weil das an einem Samstag geschah, hat das auch nur die Vertretung der Stationsschwester abbekommen. WAS HABE ICH GETAN!?

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