Lügenküche, Lügenküche! (9:00)

Ingo M. Petent hatte gute Laune an diesem Tag. Seitdem er Küchenverkäufer war, kam das öfter mal vor. Erst vor kurzem hatte er seinen Job bei der Presse an den Nagel gehängt, um einer ehrlichen Arbeit nachzugehen. In dem Küchenstudio am Rande seiner Stadt hatte er genau das gefunden, was er suchte: einen Job mit geregelten Arbeitszeiten und Kundenkontakt und bei dem er sein schauspielerisches Talent zur Geltung bringen konnte.

An seinem Schreibtisch saß seit einigen Minuten ein junges Ehepaar, das sich für ihr vor kurzem erworbenes Eigenheim eine neue Küche zulegen wollte. Ingo erkannte auf den ersten Blick, dass die beiden zum ersten Mal in ihrem Leben eine Küche planten – perfekt!

Den obligatorischen Hindernislauf durch das Gänge-Labyrinth des Küchenstudios hatte er mit den beiden direkt nach der Begrüßung am Eingang absolviert. Schnellen Schrittes eilte Ingo mit den beiden Kunden im Schlepptau durch die Ausstellung, um den Stil der Küche sowie Farbe, Struktur, Oberflächen, Arbeitsplatten, Arbeitshöhe, Tür- und Schubladengriffe sowie Gedöns und Schnickschnack auszusuchen.

Nur sieben Minuten später erreichten sie seinen Schreibtisch. Das Paar war völlig außer Atem und komplett durchgeschwitzt. Die Haare der jungen Frau waren zerzaust, während die Brille ihres Gatten verbogen war und schief auf seiner Nase saß. Was für eine Küche sie sich eben ausgesucht hatten, konnten sich die beiden unmöglich gemerkt haben, doch das war auch nicht nötig, schließlich wusste Ingo bereits vor dem ersten Wort, das sie miteinander wechselten, welches Modell er ihnen aufschwatzen… äh… empfehlen würde.

Ingo bot den beiden Platz und Kaffee an und setzte sich auf die andere Seite des Schreibtisches. Was jetzt folgte, war Routine. Sobald die Kunden Platz nahmen, lief stets das gleiche Programm ab. Er rechnete damit, dass er sich von den beiden in exakt 3:56 Stunden wieder verabschieden würde, nachdem er ihnen eine Küche für genau 8.795 Euro verkauft hatte.

Nachdem die beiden ihren Kaffee bekommen hatten, startete Ingo das Herzstück eines jeden Küchenverkaufsgesprächs: die 3D-Planung. Auf dem für die Kunden sichtbaren Bildschirm erschien ein leerer Raum, der sich in den kommenden Stunden mit Schränken, Herd und Dunstabzugshaube füllen sollte. Während die beiden fasziniert auf den ihnen zugewandten Monitor blickten, fing Ingo mit der Planung an. Er gab die Raummaße ein, stellte zwischendurch ein paar Fragen, klickte hier, verschob dort einen Kasten, drehte dort etwas herum, variierte etwas in der Höhe, löschte etwas, spielte mit den Farben und prüfte unterschiedliche Abstände – zumindest sah es für das Ehepaar so aus, als würde er das tun. Auf dem Kundenmonitor lief in Wahrheit nur eine Simulation, wie sie schon tausende Male anderen Kunden vorgespielt worden war. Noch nie hatte jemand bemerkt, dass es sich dabei gar nicht um seine Küche handelte und dass die tatsächliche Einrichtung später völlig anders aussah. Während das Ehepaar am Kaffee nippte und der Entstehung seiner vermeintlichen Küche zusah, füllte Ingo in Wirklichkeit einen Online-Lottoschein aus, bestellte ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau bei Amazon und spielte eine Runde World of Warcraft, bei der er sich mit einem Studenten aus Argentinien zu einem Team zusammenschloss, um das nächste Level zu erreichen.

Zwischendurch murmelte er Fragen wie „Was soll denn der Backofen alles können?“, machte öfter mal „Aha, ja, Moment“ und sagte zusammenhangslos „Dunstabzugshaube“. Einmal schrie er laut „Ceran!“, wodurch sich die beiden etwas erschreckten und ihren Kaffee verschütteten.

Dann kam der Zwischenfall, der seine Tarnung beinahe hatte auffliegen lassen. Ingo war gerade wieder bei „Aha, ja, Moment“ angekommen, als er merkte, dass etwas nicht stimmte. Die beiden Kunden blickten ihn mit großen Augen an, als würden sie auf etwas warten. Hatten die etwa eine Frage gestellt?! Oh Gott, das war im Protokoll nicht vorgesehen!

„Äh, sorry, das System hängt gerade wieder. Wie war die Frage?“

„Die Mikrowelle!“, sagte der Mann genervt. „Muss die so teuer? Wir haben noch eine. Ganz neu. Und die benutzen wir kaum.“

„Nee, natürlich muss das nicht so teuer… äh… natürlich muss das leider sehr wohl so teuer sein. Sie wissen schon, diese Einbaugeräte… Als Alternative könnte ich Ihnen eine einfache Klappe…“

„Nehmen wir!“, sagte der Mann. Seine Frau nickte.

Ingo war verunsichert. Auf dem Kundenmonitor bewegte sich der Mauszeiger gerade über den Bereich mit der Spüle. Er konnte da jetzt schlecht eingreifen. Auf spontane Änderungen war das Programm nicht ausgelegt.

„Ich… äh… mache hier erst mal fertig und um die Mikrowelle kümmern wir uns dann gleich, ja?“, schlug er vor, während er online die Bestellung für eine neue Liebesschaukel für seine Geliebte und sich abschloss. Das Paar war befriedigt. Das war gerade nochmal gut gegangen.

Mittlerweile waren zwei Stunden vergangen und bei den Kunden machte sich der viele Kaffee bemerkbar. Ingo zeigte dem Mann die Toilette. Er eilte erneut so schnell durch das Labyrinth der Küchenausstellung, dass der Kunde sich den Weg unmöglich merken konnte. Fast zehn Minuten waren die beiden unterwegs, in denen Ingo immer wieder die Richtung wechselte, Haken schlug und jede Ecke mitnahm, die er finden konnte.

Nachdem der Mann auf der Toilette verschwunden war, brauchte Ingo gerade einmal 30 Sekunden, um an seinen Schreibtisch zurückzukehren. Der Mann hingegen tauchte erst mal nicht wieder auf. Nach einer halben Stunde versuchte seine Frau, ihn anzurufen – vergebens. Nach fast eineinhalb Stunden hielt schließlich ein Taxi vor dem Küchenstudio, aus dem der Mann völlig verschwitzt und aufgelöst ausstieg. Er drückte dem Taxifahrer 70 Euro in die Hand und eilte zu seiner Frau an Ingos Schreibtisch.

„Also, dieses Labyrinth hier…“, stöhnte er. „Ich bin unendlich lange hier umher geirrt, ohne eine Menschenseele zu treffen. Und hinter einer Tür stand ich plötzlich in einer Autowerkstatt in Uelzen!“

Die Küchenplanung befand sich nun in den letzten Zügen. Die Simulation auf dem Kundenmonitor war beendet und jetzt ging es um den Preis.

Ingo sagte minutenlang gar nichts. Während er Konzentration vortäuschte, wild auf der Tastatur herumtackerte und mit der Maus klickte, schlummerte das Ehepaar langsam weg.

„Ceran!“, schrie er plötzlich. Da waren beide wieder wach.

Jetzt ging die Show los. Das Highlight jedes Küchenverkaufsgesprächs. Der wahre Grund, warum er diesen Job so liebte.

„Wollen mal sehen.“

Lange Pause.

„Ihre Küche, so wie wir sie hier geplant haben, hat mit den ganzen Geräten, dem Ceran!, der Pyrolyse sowie dem Schnick und dem Schnack einen Wert von…“

Trommelwirbel. Schweißausbrüche.

„…1,2 Millionen Euro!“

Herzstillstand.

„Aber…“

Wiederbelebung.

„Ich schau mal, was ich da machen kann.“

Wieder tackern, klicken und konzentriert gucken.

„Sie bekommen exklusiv von mir und nur heute und nur, weil sie es sind und weil in sieben Monaten schon wieder Weihnachten ist, einen Rabatt von 97.400 Prozent! Somit stehen wir bei 72.000 Euro.“

Nervöses Zucken.

„Und wir haben da ja auch noch unsere ganz besondere, einmalige, exklusive Kundenaktion, bei der nur noch wenige Plätze frei sind. Wenn sie hier einmal schauen wollen…“

Ingo wies auf eine Tafel an der Wand mit Namen von angeblichen Kunden, die an dieser Mega-Rabattaktion bereits teilnahmen. Am Ende der Liste war noch exakt ein Feld frei. Hätte das Paar genauer hingesehen, hätte es gemerkt, dass die Namen auf der Liste vorwiegend Figuren aus Game of Thrones und der Lindenstraße waren.

„Entscheiden sie sich schnell. Morgen ist der Platz wahrscheinlich schon besetzt.“

Natürlich entschieden sich die beiden dafür.

„Äh, ja, Moment. Damit wären wir bei 21.700 Euro.“

Immer noch Skepsis.

„Ok. Eine Möglichkeit habe ich noch: Mal sehen, was der Chef da noch machen kann.“

Ingo erhob sich und knöpfte langsam sein Jackett zu.

„Das wird dem Chef wahrscheinlich nicht gefallen“, murmelte er, „und ich werde wohl auf einen Teil meiner Provision verzichten müssen, was bedeutet, dass ich dem kleinen Tim zu seinem Geburtstag nächsten Monat wohl doch kein neues Fahrrad schenken kann… Aber weil sie es sind… ich überrede ihn mal, dass wir da noch an ein paar Stellschrauben drehen.“

Den Satz mit den Stellschrauben hatte er beinahe vergessen.

Ingo ließ das Ehepaar allein und eilte in den hinteren Teil des Küchenstudios. Durch eine Tür gelangte er auf den Personalparkplatz. Er setzte sich in sein Auto und fuhr ein paar Kilometer zu seinem Lieblingschinesen. Er bestellte sich wie immer die Nummer 32 ohne Pilze und genoss sein Mittagessen. Anschließend spazierte er noch etwas im Stadtpark umher, fütterte Enten und unterhielt sich mit ein paar Rentnern über das schöne Wetter.

Bei seiner Rückkehr ins Küchenstudio war fast eine Stunde vergangen.

Das Ehepaar hatte sich nicht vom Fleck bewegt.

„Puh, das waren harte Verhandlungen kann ich ihnen sagen! Aber ich habe gute Nachrichten: Wir können ihnen ihre Küche für 13.000 Euro anbieten! Na? NA?!“

Ingo strahlte. Das Ehepaar noch nicht so richtig. Damit hatte Ingo gerechnet, aber er hatte noch ordentlich Spielraum.

Es ging noch einige Zeit hin und her, doch als die Sonne am nächsten Morgen aufging, hatten sie sich geeinigt. Ingo hatte den beiden die Küche für exakt 8.795 Euro verkauft. Wie vorhergesagt. Er hätte auch noch auf 5.000 Euro runtergehen können, denn der asiatische Fertigplunder, den die beiden sich in ihre Küche stellen wollten, war nicht mehr wert als 1.200. Aber das wussten die ja nicht. Das wusste niemand.

Nur mit der Uhrzeit hatte er sich etwas verschätzt, aber das kam vor.

Nachdem das junge Ehepaar das Küchenstudio verlassen hatte, schrieb Ingo die Namen „Peggy und Al Bundy“ in das letzte freie Feld der Aktionsliste und machte Feierabend.

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