Am längsten bleibt der Krebs im Kopf – Teil 2 (12:00)

Im ersten Teil von Am längsten bleibt der Krebs im Kopf habe ich vergangene Woche über meine ersten Krebsjahrestage geschrieben. Ein Jahr ist es jetzt her, seitdem ich die Krebsdiagnose bekommen habe, zweimal operiert und schließlich endgültig aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Der Tumor als physische Komponente ist jetzt weg. Ihn zu entfernen, war eine handwerkliche Angelegenheit von wenigen Stunden. Doch die psychischen Nachwirkungen dauern deutlich länger. Die anfängliche Euphorie, die traumatischen Tage im Krankenhaus überstanden zu haben, wechselte sich immer öfter mit emotionalen Tiefs ab. Ich wurde zunehmend geräuschempfindlich und stressanfällig. Weihnachten und Silvester feierte ich im vergangenen Jahr so gut wie gar nicht. Und dann kam das neue Jahr.

Im neuen Jahr bewegte sich mein Wohlbefinden in Wellenform. Ein bisschen gut oder ein bisschen schlecht gab es nicht. Entweder ging es mir richtig gut und ich war überglücklich, die Krebserfahrung gemeistert zu haben oder ich war ziemlich weit unten und immer noch absolut geschockt, dass ich das überhaupt durchmachen musste.

Das Jahr ging eigentlich ganz gut los. Ende Januar fühlte ich mich fit genug, um das erste Mal nach den OPs wieder Sport zu treiben. Für den Anfang setzte ich mich in meinem Ruderverein ein paar Minuten auf das Ruderergometer. Es zwickte zwar noch etwas in der Leiste, aber im Großen und Ganzen machte mein Körper gut mit. Anfang Februar schlüpfte ich das erste Mal wieder in meine Laufschuhe. An meine üblichen Sieben- oder gar Zehn-Kilometer-Runden war natürlich noch nicht zu denken. Ich lief in unserer neuen Nachbarschaft dreimal um den Block und schaffte rund 3,5 Kilometer. Ein Erfolg.

Kurz darauf folgte mit dem MRT die erste große Nachsorgeuntersuchung. Nach zwei Stunden im Wartezimmer, wenigen Minuten in der Röhre und der Nachbesprechung beim Urologen war klar: Keine Auffälligkeiten. Alles gut. Ein weiterer Erfolg.

Das MRT wollte ich unbedingt erledigt haben, denn Mitte Februar sollte meine Reha beginnen. Drei Wochen lang wohnte ich dafür im Harz, machte viel Sport, lernte viel über Ernährung und bekam hilfreiche Tipps. Ich wanderte durch den Schnee den Brocken und den Wurmberg hinauf und lernte Thai Chi und die Vorlesetherapie kennen. Zum ersten Mal nach dem Krebs lief ich wieder fünf Kilometer am Stück und das über bergige Waldwege im Mittelgebirge. Die Reha tat mir sehr gut und war ebenfalls ein Erfolg.

Nach der Reha ging es Anfang März schwer auf den Frühling zu. Es wurde wärmer und die Natur startete mit viel Grün in ihren jährlichen Neuanfang. Auch ich hatte mir immer ausgemalt, dass spätestens der Frühling auch für mich einen Neuanfang bedeuten würde. „Wenn dann erst mal der Frühling kommt und das Wetter besser wird, geht’s mir bestimmt auch ganz schnell wieder gut“, hatte ich immer gesagt. Stattdessen musste ich feststellen, dass mein Wohlbefinden nicht vom Wetter abhing.

Neben dem Frühling stehen März und April für mich für die ersten Sportereignisse des Jahres: den Wasa-Lauf und den Hannover-Marathon. Der Wasa-Lauf ist ein Volkslauf durch meine Heimatstadt Celle, an dem ich in den vergangenen 22 Jahren zwanzigmal teilgenommen habe. Zur Auswahl stehen Strecken von 2,5 bis 20 Kilometer. Meine Paradestrecke sind die zehn Kilometer, doch dass ich die im März noch nicht bewältigen konnte, war mir bereits bei der Anmeldung im Dezember klar gewesen. So lief ich nur fünf Kilometer, dafür aber in einer zufriedenstellenden Zeit. Den Lauf wollte ich als Vorbereitung auf den Hannover-Marathon drei Wochen später nutzen. Diese Veranstaltung hatte ebenfalls einen schönen Zehn-Kilometer-Lauf im Angebot, den ich in den vergangenen Jahren öfter absolviert habe, zuletzt auch mal wieder unter 50 Minuten.

Auf den diesjährigen Lauf in Hannover hatte ich mich eigentlich ganz gut vorbereitet. Dachte ich. Neben den fünf schaffte ich im Training mittlerweile auch die sieben und acht Kilometer ganz gut. Für die zehn sah ich deswegen keine Probleme. Bis zur Generalprobe kurz vor Anmeldeschluss. Ich hatte mir extra einen entspannten Samstagnachmittag ausgesucht und ging ausgeschlafen auf meine Traditionsstrecke. Doch irgendwas in mir lief nicht richtig. Irgendwas regte mich auf. Was genau, kann ich gar nicht richtig benennen. Vielleicht war es der Arbeitsalltag, der mich längst wieder eingeholt hatte, vielleicht der Trubel eines nachmittäglichen Besuchs. Vielleicht aber auch der neue Fußboden im Haus, der trotz aller Ankündigungen nach einem halben Jahr immer noch an zahlreichen Stellen knackte und knarrte. Vielleicht alles zusammen, vielleicht nichts davon. Vielleicht auch einfach nur der hinterhältige Krebs, der plötzlich wieder an die Schädelinnenwand klopfte und sagte: „Ich bin immer noch da…“.

Der erste Zehn-Kilometer-Lauf nach dem Krebs war einer der schlimmsten Läufe meines Lebens. Ich fühlte mich, als wäre ich diese Strecke noch nie zuvor gelaufen. Auf einem Teilstück, das eine Straße entlang durch einen Wald führte, kam ich mir einsam und verlassen vor. Der Weg wollte kein Ende nehmen und ich japste und keuchte wie nie zuvor. Den Trainingslauf schaffte ich zwar ohne Pause, allerdings in einer Zeit, mit der ich noch nicht einmal vor 20 Jahren zufrieden gewesen wäre. Entmutigt ging ich hinterher duschen und sagte vor lauter Enttäuschung einen Kneipenabend mit Freunden ab. Zu dem Lauf in Hannover meldete ich mich nicht an.

Manch anderer hätte sich vielleicht nicht von einer schlechten Laufzeit die Laune verderben lassen und sich damit zufrieden gegeben, überhaupt ins Ziel gekommen zu sein. Doch das war ich nicht gewohnt. Vor dem Krebs hatte ich immer ordentliche Leistungen abgeliefert. Trainingserfolg lässt sich an guten Zeiten ablesen. Ein bisschen Anreiz brauchte ich immer. Wer mehrere Jahre lang Leistungssport betrieben hat, kann wahrscheinlich nicht anders. Dass ich von meiner Form vor der OP noch etwas entfernt war, war mir klar, doch zu diesem Zeitpunkt war ich von meinem alten Ich doch weiter entfernt, als ich dachte. Und das nervte langsam.

Ich wollte endlich wieder so funktionieren wie vorher. Es gab Momente, da erkannte ich mich selbst nicht wieder. Das fing bei Kleinigkeiten im Alltag an. Plötzlich war ich ungewohnt vergesslich und zerstreut. Oder ich suchte nach den richtigen Worten. Nach dem Umzug in unser neues Haus brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit, um mich in der neuen Küche zurecht zu finden. Ständig verwechselte ich Schränke und Schubladen. Und ich brauchte für vieles länger. Die Abläufe saßen einfach nicht, sowohl die gedanklichen als auch die körperlichen. Zusammen mit meiner Ungeduld ergab das eine gefährliche Mischung. Wenn etwas nur eine Sekunde länger dauerte, als gewohnt, hätte ich alles am liebsten gleich hingeschmissen. Ich regte mich über mich selbst auf. Dann regte ich mich darüber auf, dass ich mich schon wieder aufregen musste. Ich fragte mich, wie lange das wohl so gehen würde. Zwischendurch fand ich alles mal scheiße. Das Haus, das Wetter, die ganze Welt. Dabei war es eigentlich nur der Krebs, den ich verfluchte.

Vielleicht ist es eine Art von posttraumatischem Stress, mit dem ich mich auseinandersetzen musste. Eine professionelle Meinung habe ich dazu leider nicht bekommen, denn die 1,5 psychoonkologischen Stellen in der Reha-Klinik waren stets ausgebucht. Doch ich habe mir das irgendwann so hingebogen und diese Art der Selbstdiagnose, wenn auch naiv, tat mir irgendwie gut. Fakt ist, dass 21 anstrengende Krankenhaustage nicht durch 21 entspannte Tage ohne Krankenhaus ausgeglichen werden können. Bei weitem nicht. In den Monaten nach meiner Entlassung fühlte ich mich durch viele Alltagssituationen an den Krankenhausalltag erinnert. „Kommst du mal in mein Büro“ hörte sich für mich so an wie „Kommen Sie bitte ins Behandlungszimmer“. Lärm und viele Menschen um mich herum erinnerten mich an laute Mitpatienten und Alarm auf dem Krankenhausflur. Piepen jeglicher Art, sei es bei Uhren, bei McDonalds oder im Fernsehen, verband ich lange Zeit noch mit den Geräuschen in der Klinik.

Das alles legte sich nur allmählich. Wurde mal besser, dann wieder schlechter.

Absagen musste ich noch weitere Verabredungen, zum Beispiel die Fahrradtour an Himmelfahrt und ein Musikfestival in Hannover, für das wir bereits Karten hatten. Hier kam auch wieder eine Erkältung dazu, die mich zwar nicht für vier, aber immer noch für zweieinhalb Wochen lahmlegte. Irgendwann traute ich mich kaum noch, Pläne zu machen, denn ich konnte nicht garantieren, die Verabredungen auch einhalten zu können. Das scheint sich momentan wieder zu bessern.

Die zehn Kilometer bin ich inzwischen erfolgreich gelaufen. In Uelzen nahm ich im Juni zum ersten Mal an einem Abendlauf teil. Trotz der anspruchsvollen Strecke mit Steigungen und Kopfsteinpflaster schaffte ich eine Zeit von unter 55 Minuten. Als Ziel hatte ich mir 60 Minuten gesetzt. Ein Erfolg. Endlich mal wieder.

Auch mit dem Haus habe ich mich nach einem Jahr langsam angefreundet. Erfolgreich habe ich Lampen, Regale und Schränke montiert. Und dabei zuletzt gar nicht mehr geflucht. Mittlerweile muss ich zwischendurch kaum noch in den Keller rennen, weil ich Werkzeug vergessen habe.

Wie es mir aktuell geht? Das muss ich mich von Zeit zu Zeit selbst auch fragen. Die Frage ist für mich mehr als nur eine höfliche Begrüßungsfloskel. Körperlich bin ich ziemlich zufrieden. Die durch die Lymph-OP ausgelösten Beinschwellungen sind kaum noch ein Problem und die Narben sind optimal verheilt. Die beiden Schnitte an den Leisten sind fast gar nicht mehr zu sehen. Eine meisterhafte Arbeit der Chirurgen. Regelmäßig gehe ich laufen, wenn möglich bei schönem Wetter im Hellen. Manchmal auch zehn Kilometer. Einen Tiefpunkt, wie den kurz vorm Hannover-Marathon, hatte ich bislang nicht wieder.

Die körperlichen Fortschritte tragen natürlich auch zum geistigen Wohlbefinden bei. Ich merke, dass sich etwas tut. Auch das Vorübergehen der ersten Jahrestage hat viel bewirkt. Im August und September, speziell an den Tagen, an denen ich ein Jahr zuvor operiert worden war und im Krankenhaus gelegen hatte, war ich komisch drauf. Irgendwie unruhig und gereizt. Und mit den Gedanken noch weiter weg als sonst. Als der 1. Oktober vorüber war, der Jahrestag meiner endgültigen Entlassung aus dem Krankenhaus, ging es mir eindeutig besser. Vielleicht lag es auch daran, dass ich an diesem Wochenende in München das Oktoberfest besuchte. So wie früher. Und das funktionierte noch wie früher und fühlte sich gut an.

Ein Jahr ist meine Krebserfahrung jetzt her. Schon ein Jahr? Nein, ERST ein Jahr. Das erste Jahr nach dem Krebs ist vielleicht das schlimmste. Und deswegen auch das wichtigste. Im Moment zeigt die Kurve nach oben. Bereits länger als gewohnt. Das kann gerne so bleiben.

Momentan habe ich sogar wieder Lust auf Weihnachten.

5 Gedanken zu „Am längsten bleibt der Krebs im Kopf – Teil 2 (12:00)

  1. Lieber Stefan, so ein ehrlicher und direkter Bericht… Die Seele ist ein kompliziertes Gebilde und ich denke, so eine exiszenziell bedrohliche Erfahrung braucht ihre Zeit, um ihr Ventil zu finden. Ich wünsche Dir von Herzen, dass sie sich ihren Weg sucht, damit es Dir jeden Tag besser gehen kann.

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  2. Lieber Stephan, darüber habe ich noch nie so wirklich nachgedacht, wie es Menschen nach der Krebsheilung geht. Du hast das wieder sehr gut beschrieben, dass trotzdem es dir körperlich wieder gut gut, noch lange nicht alles in Ordnung sein muss. Laß dir Zeit, sei geduldig mit dir und wenn du es dann doch nicht sein kannst, verzeih es dir einfach. Das Leben ist doch schön! Das weißt du doch am besten. LG Undine

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