Mein Lieblingsplatz im Zug (7:30)

Im mittleren Drittel des Großraumwaggons. Mit dem Rücken an der Scheibe, die vor ewigen Zeiten einmal den Raucher- vom Nichtraucherbereich trennte. Genau dort befindet sich mein Lieblingsplatz im Zug. Dieser Platz hat eigentlich nur Vorzüge und die möchte ich hier in alter Sheldon-Cooper-Manier einmal erläutern.

Das Maß an Störungen pendelt sich an diesem Platz auch im schlimmsten Fall auf einem immer noch erträglichen Niveau ein. Ähnlich wie bei einer Festung am Berg muss ich auf diesem Platz nur mit Angriffen aus hauptsächlich einer Richtung rechnen. Was hinter mir passiert, ist mir größtenteils egal, denn die Glasscheibe schirmt mich ab. Da macht es auch nichts, wenn direkt auf der anderen Seite jemand sitzt, der sich unterhält, telefoniert oder etwas isst. Die Scheibe ist zwar nicht schalldicht, doch sie ist eine Scheibe. Eine Trennwand. Eine Grenze, die mich vom Geschehen im Zug hinter mir abschirmt. Ein Kraftfeld, das mich in dem Wissen um seine ruhestiftende Stärke innerlich entspannen lässt.

Natürlich kann auch auf der anderen Seite der Scheibe, also dort, wo ich sitze, viel passieren, doch die Wahrscheinlichkeit, dass ich gestört werde, minimiert sich durch den Glasschutz in meinem Rücken immens. Dazu kommt, dass sich der Platz mehr oder weniger in der Mitte des Waggons befindet. Viele Fahrgäste setzen sich nach dem Einsteigen sofort auf den erstbesten freien Platz, der sich ihnen bietet. Sicher ist sicher. Die meisten fahren auch nicht so weit und steigen nach einer oder zwei Stationen wieder aus. Warum also so weit hineingehen? Für mich weiter in der Mitte bedeutet das, dass sich seltener jemand in diesen Bereich vorwagt. Zumindest wenn genug Plätze frei sind. Wieder sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Störung in meiner Nähe platziert.

Die Glasscheibe befindet sich, wie gesagt, nicht genau in der Mitte des Großraumwaggons, sondern teilt eher das letzte Drittel vom Rest ab. Am liebsten sitze ich auf der Seite der Scheibe, die sich in dem größeren Teil befindet. Auf diese Weise halte ich mir einen der größten Stressfaktoren in einem Großraumabteil vom Leib: den Vierertisch. Es ist unglaublich, was sich an diesen Tischen für eine Lautstärke entwickeln kann, und das teilweise von nur zwei Personen!

Die Anordnung bringt es mit sich. Die Fahrgäste sitzen an einem Tisch nicht nebeneinander und können sich gedämpft zwischen Mund und Ohr unterhalten, nein. Sie sitzen sich gegenüber, haben den Tisch zwischen sich und müssen diese Entfernung nun durch die entsprechende Lautstärke kompensieren, vor allem, wenn sie die Zugfahrt gerne bequem zurückgelehnt genießen. Natürlich könnten sie sich vorbeugen, sich mit verschränkten Armen auf dem Tisch abstützen und das Gespräch in einen eher säuselnden Modus überführen, doch leider kommt da immer niemand drauf.

Mit der Glasscheibe im Rücken habe ich die eine Vierertischreihe in der kleineren Waggonhälfte schon mal erfolgreich ausgesperrt. Die andere befindet sich zwar vor mir und zwischen uns beiden befindet sich keine schützende Barriere, doch sie ist ein gutes Stück entfernt, sodass die Chance besteht, durch etwaige Gespräche nicht sonderlich beeinträchtigt zu werden. Bei dieser Anordnung gelingt es mir außerdem besser, im Falle einer Störung Augenkontakt mit einem Mitglied der lärmenden Reisegruppe aufzunehmen und es durch eindeutiges Stirnrunzeln, Lippenschürzen und Augenzukneifen energisch zurechtzuweisen. Meistens allerdings ohne Erfolg. Nun ja. Wenn alles nichts hilft, muss ich zum letzten Mittel greifen: Kopfhörer und Heavy Metal.

Die Scheibe im Rücken hat außerdem den Vorteil, dass ich meine Rückenlehne so weit nach hinten stellen kann, wie ich lustig bin. Niemand beschwert sich, denn die Scheibe nimmt meine Zuneigung wortlos entgegen. Wie oft stürmen Fahrgäste in den Zug, hechten außer Atem auf den freien Platz vor mir, reißen sich die Jacke vom Leib, lassen sich theatralisch aufs Polster plumpsen, greifen routiniert zum Hebel, drücken die Rückenlehne mit einer solchen Wucht nach hinten, dass mir fast der aufgeklappte Laptop ans Kinn knallt, atmen einen Moment mit geschlossenen Augen tief durch, drehen sich anschließend um und fragen dann erst: „Geht das so mit dem Sitz?!“ Ich runzele dann die Stirn, kneife die Augen zusammen und presse ein total freundliches „Klar, kein Problem“ hervor.

Ich möchte da etwas rücksichtsvoller sein. Mach, was du willst, aber gehe den anderen damit nicht auf den Sack. Schlafen? Gerne. Aber nicht auf dem Schoß des anderen. Musik? Klar. Aber bitte mit gedämpften Kopfhörern. Essen? Muss auch manchmal sein. Aber nach Möglichkeit bitte nicht das große Glutamatmenü vom Chinamann, sondern vielleicht eher das unaufdringliche Sandwich. Und die Streuselschnecke vom Bäcker muss auch nicht bis zum letzten Bissen mit der knisternden Papiertüte festgehalten werden!

Vor kurzem dachte ich, ein Sitz im Abteil wird mein neuer Lieblingsplatz im Zug. Abschirmung von äußeren Einflüssen geschieht dort auf höchstem Niveau. Es sind zwar immerhin sechs Plätze vorhanden, doch mehr als drei Leute gleichzeitig müssen sich selten in einem Abteil arrangieren. Zum Ende meiner Reise war ich außerdem meist allein, weil die anderen schon vorher ausgestiegen waren. Und auch mit zwei oder drei anderen Alleinreisenden herrschte im Abteil stets eine angenehm ruhige Feierabendstimmung.

Das hohe Maß an Ruhe wiegt allerdings die beiden klaren Nachteile eines Platzes im Abteil nicht auf. Zum einen sind in einem Abteil im Intercity meistens nur die beiden Sitze am Fenster mit einem Tisch ausgestattet und der ist auch noch dermaßen klein, dass ein handelsüblicher Laptop auf ihm kaum Platz findet. Ein großer Nachteil, wenn man sich so manche Heimreise mit dem Schreiben von Texten vertreibt.

Zum anderen vertrage ich offenbar die unbequemen Sitze im Abteil nicht. In Ermangelung eines ordentlichen Klapptisches ließ ich meinen Laptop nämlich im Rucksack und machte es mir mit den Drei Fragezeichen im Ohr bequem. Mehrere Feierabende verbrachte ich auf diese Weise schlafend im Abteil. Und jeden Abend wurden meine Kopf- und Rückenschmerzen größer. Mit dem Verzicht auf eine Fahrt im Abteil verschwanden diese ziemlich schnell wieder. Diese Beziehung musste ich also dauerhaft beenden.

Doch glücklicherweise ist der Platz an der Scheibe im Großraumwaggon oft genug frei. Dort kann ich den Klapptisch nutzen, wenn er nicht verbogen ist oder die Lehne nach hinten stellen und entspannen. Ziemlich schnell kann es aber auch dort ungemütlich werden. Oft genug kommt es vor, dass die Reisenden eines liegengebliebenen oder ausgefallenen Zuges in meinen Intercity drängen. Plötzlich sind überall Menschen, die auf der Suche nach einem freien Platz durch die Gänge drängen. In diesen Fällen ist es unausweichlich, dass ich jemanden neben mir sitzen lassen muss. Und was für Leute man dabei abbekommen kann… ist eine eigene Geschichte wert.

Fortsetzung folgt.

4 Gedanken zu „Mein Lieblingsplatz im Zug (7:30)

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