Kürzlich habe ich hier lang und breit über meinen Lieblingsplatz im Zug geschrieben. Nun habe ich vor kurzem auch den schlimmsten Platz im Zug kennengelernt, den man sich vorstellen kann. Und diesen Platz möchte ich euch aus Gründen der Gleichberechtigung natürlich nicht vorenthalten. Obwohl ich beruflich nicht mehr jeden Tag mit dem Zug unterwegs sein muss, so bringen es Ausflüge und ähnliche Freizeitaktivitäten manchmal mit sich, dass ich eines dieser mit Technik vollgepackten Schienenfahrzeuge besteigen muss. Und mit einer entspannten Reise hat das dann manchmal wenig zu tun.
Es war auf dem Weg nach Hamburg. Wieder einmal. Diesmal jedoch nicht aus beruflichen, sondern aus privaten, genauer gesagt privatvergnüglichen Gründen. Im Museum für Kunst und Gewerbe wollten sich meine angeheiratete Mitbewohnerin und ich eine Ausstellung anschauen. Aus diesem Grund machten wir uns an einem Samstagvormittag mit dem ICE auf den Weg in die Hansestadt.
Eine Platzreservierung hatten wir nicht, deswegen mussten wir mit dem Angebot klarkommen, das sich uns präsentierte. Wir wählten zwei freie Plätze nebeneinander an einem Vierertisch. Eine fatale Entscheidung! Dieser Platz entpuppte sich für mich als der schlimmste Platz, auf dem ich im Zug jemals gesessen hatte!
An der Gesellschaft lag das freilich nicht. Neben meiner Frau hatte ich in den vergangenen Jahren schon öfter gesessen. Das funktionierte. Auch der junge Mann uns gegenüber verhielt sich ruhig, während er sich mit seinem Laptop beschäftigte.
Was meinen Platz zum schlimmsten Platz im Zug machte, war die Lage. Lage, Lage, Lage! Hört man ja immer wieder. Meiner Frau hatte ich den Platz am Fenster überlassen, so dass ich mich auf dem Sitz am Gang niederließ. Nun saß ich aber nicht nur am Gang – damit war ich auch stets gut zurecht gekommen – sondern auch am Ende des Großraumabteils. Direkt neben der automatischen Schiebetür aus Glas. Automatisch! Gesteuert durch einen Bewegungsmelder, der so empfindlich war, dass sich die Tür durch die kleinste Bewegung aufgefordert sah, sich zu öffnen. Was folgten, waren die anstrengendsten 70 Minuten Zugfahrt meines Lebens.
Während meine Frau neben mir offenbar außerhalb des großzügig eingestellten Radius des Bewegungsmelders saß und wie gewohnt Flickflacks übte, durfte ich mich auf meinem Platz nur in Zeitlupe bewegen, um die moderne Technik des ICEs nicht zu erzürnen. Der Genuss meines Frühstücks war dadurch arg getrübt. Führte ich mein Brötchen auch nur etwas zu schnell an meine Lippen oder ließ dieser Bewegung einen zu hastigen Gebrauch der Serviette folgen – Zisch und Klack – öffnete sich die Tür schräg hinter mir und Zugluft sowie Lärm aus dem Vorraum drängten sich hinein.
Ans Lesen war auch nicht zu denken. Schon der Griff zu Zeitschrift schien von der Tür mit einem sich nähernden Fahrgast verwechselt zu werden. Jedes Umblättern musste schließlich sehr bedächtig geschehen, damit die Glastür nicht erneut zur Seite glitt.
Zeitweise fühlte ich mich wie ein Agent aus Mission Impossible, der sich in Zeitlupe durch einen Raum bewegen muss, um die Alarmanlage nicht auszulösen. Oder wie die Kinder im Jurassic Park, die bewegungslos verharren, damit der T-Rex sie nicht entdeckt.
Irgendwann war ich so angespannt, dass mir eine Muskelverhärtung in den Oberschenkeln drohte. Zeitweise lehnte ich mich so weit zu meiner Frau herüber, bis sich mir die Armlehne schmerzhaft in die Seite bohrte. Es half alles nichts.
Schließlich lehnte ich mich vorsichtig zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und wollte den Rest der Fahrt mit geschlossenen Augen verbringen. Ich war mir sicher, damit die beste Sitzposition für den schlimmsten Platz im Zug gefunden zu haben und döste langsam ein.
Plötzlich wurde ich wieder wach, als sich Schritte näherten und eine Jacke meine Schulter streifte. Neben mir im Gang stand ein Herr, der nicht weiterkam, weil sich die automatische Tür nicht öffnete. Er blickte irritiert nach oben und schaute den Bewegungsmelder böse an, doch nichts tat sich.
„Einen Moment“, sagte ich und zuckte kurz mit der rechten Augenbraue. Die Tür glitt zur Seite und der Herr konnte seinen Weg fortsetzen.
Kurz darauf kamen wir in Hamburg an. Die Ausstellung war sehr schön.
Abends fuhr glücklicherweise kein ICE mehr zurück, sodass wir den einfacher ausgestatteten Regionalzug genießen durften. Ohne automatische Türen. Herrlich.