In den Fängen einer Fahrgemeinschaft (7:30)

Seit einigen Wochen bin ich Teil einer ganz besonderen Fahrgemeinschaft. In meiner Anfangszeit als Pendler zwischen Hamburg und Niedersachsen hatte ich meinen Arbeitsweg im Zug noch alleine verbringen und die Zeit mit Essen, Lesen oder Musik hören überbrücken müssen. Wehmütig beobachtete ich andere Passagiere, die zu zweit oder in noch größeren Gruppen unterwegs waren und die ganze Zeit kicherten und juxten und sich angeregt unterhielten. Das war in meinen Augen wahres Glück. Und jetzt ist es auch endlich mir widerfahren!

Eines Tages saß ich nach der Arbeit wie üblich in meinem Zweiersitz in der Zweiten Klasse und blätterte lustlos in einer Zeitschrift. Es war Freitagabend und eine Reihe vor mir war die Wochenendstimmung bereits in vollem Gange. Drei Herren saßen an einem Vierertisch und ließen den Rest des Waggons an ihrem Kartenspiel teilhaben. Lauter Jubel und ärgerliches Murren wechselten sich ab und wurden nur von stillen Momenten unterbrochen, in denen die Karten neu gemischt und verteilt wurden. Und schon ging es lautstark weiter.

„Hey, möchten sie vielleicht mitspielen?“, grinste mich plötzlich einer der Kartenkasper an. Offenbar hatte ich der Spielgruppe etwas zu interessiert zugeschaut. „Na, kommen sie schon. Wir könnten noch einen vierten Mann gebrauchen!“

Ich setzte mich auf den letzten freien Platz am Tisch und bekam sofort einen Stapel Karten vor die Nase gesetzt. Die Herren kloppten Skat. Das kannte ich gar nicht. Sah aber nicht so schwierig aus. Wie die anderen pfefferte ich meine Karten fröhlich und unkoordiniert nacheinander auf den Tisch, was von den Mitspielern entweder mit einem anerkennenden „Uuuiii“ oder einem tadelnden „Na, das geht aber nicht“ kommentiert wurde.

Anscheinend schlug ich mich aber gar nicht so schlecht. An meinem Heimbahnhof lächelten mir zum Abschied alle zu. Einer stieg ebenfalls mit mir aus. „Schönes Wochenende“, wünschte er mir noch, dann eilte er die Stufen zum Bahnhofsparkhaus hinauf. Ich radelte gut gelaunt nach Hause und war glücklich über die Gemeinschaft, die ich kennengelernt hatte.

Am Montagmorgen traf ich den Kartenspieler, der mit mir am Freitag ausgestiegen war, beim Warten auf den Zug am Bahnsteig wieder. Bisher war er mir noch nie aufgefallen.

„Na, schönes Wochenende gehabt?“, begrüßte er mich, nachdem er mich erkannt hatte.

„Kann mich nicht beklagen, Danke“, antwortete ich.

„Ich heiße übrigens Sören“, sagte er.

„Sehr erfreut“, sagte ich und stellte mich ebenfalls vor.

Nachdem der Zug eingefahren war, stiegen wir gemeinsam ein. Ich folgte Sören durch die Sitzreihen, bis er wieder an einem Vierertisch angekommen war. Dort saßen bereits die anderen beiden Herren aus der Kartenrunde vom Freitag. Alle begrüßten mich freundlich und bedeuteten mir, mich dazu zu setzen.

„Das sind Holger und Norbert. Die sitzen schon seit Hannover hier“, erklärte Sören und stellte mich den beiden ebenfalls vor.

Wieder wurden die Karten hervorgeholt und wir verbrachten die kommende Viertelstunde mit einem angeregten Spiel zum Wachwerden.

An der nächsten Station in Uelzen stiegen drei weitere Personen, darunter eine Frau, ein,  die sich schnurstracks in unsere Richtung bewegten und wie selbstverständlich den Vierertisch neben uns besetzten. Erst jetzt erkannte ich, dass Holger und Norbert die Sitze dort mit ihren Aktentaschen reserviert hatten.

„Darf ich vorstellen: Martina, Andreas und Uwe“, sagte Sören feierlich zu mir.

Ans Kartenspiel war jetzt nicht mehr zu denken. Kaum war der Zug wieder angefahren, da erzählte Andreas ausführlich von seinem Wochenendausflug in die Holsteinische Schweiz. Der 75. Geburtstag seiner Großtante sei dort gefeiert worden. Das Essen sei traumhaft gewesen, doch der Stau auf dem Rückweg am Sonntag „hammer ätzend“. Ich hörte aufmerksam zu. Die Geschichte war jedenfalls spannender als alles, was in der kostenlosen Bahn-Zeitschrift stand, die ich sonst las.

Kurze Zeit später erreichten wir Lüneburg. Holger und Martina stiegen aus, Jens, Claudia und Maren stiegen ein.

In Harburg verließ uns Norbert, dafür kam Hendrik dazu.

Am Hamburger Hauptbahnhof mussten wir alle raus und zerstreuten uns in alle Richtungen. Ich war überwältigt. An einem Vormittag hatte ich mehr Menschen kennengelernt, als in meinem kleinen Büro in der Hamburger Innenstadt arbeiteten.

Doch dabei sollte es nicht bleiben. Abends auf der Heimfahrt kamen noch weitere Gemeinschaftspendler dazu. Einige fingen später an zu arbeiten oder hörten früher auf. Es war ein ständiges Kommen und Gehen an unseren Vierertischen und zeitweise waren sogar die Sitzreihen davor und dahinter belegt. Der Schaffner schien sich über die gute Laune unserer Gruppe zu freuen. Offenbar kannte er einzelne Mitglieder schon eine ganze Weile, denn die Monatskarten kontrollierte er nur stichprobenartig.

Es war eine bemerkenswerte Gemeinschaft, in die ich da hineingeraten war. Sie bestand aus nicht weniger als 33 Menschen aus sieben Städten entlang der Bahnstrecke zwischen Göttingen und Hamburg. Manche fuhren nur eine oder zwei Stationen weit, andere mussten die komplette Strecke bewältigen. Einige sah ich nur morgens, andere abends und wieder andere nur alle paar Tage. Und es kannten sich noch nicht einmal alle untereinander. Wer nur zwischen Hamburg und Lüneburg pendelte, kam niemals mit den Uelzen-Hannover-Pendlern in Kontakt. Ich war einer der wenigen, der nach und nach alle Mitglieder der Gang kennen lernte.

Im Laufe der Zeit hatte sich unter uns sogar ein kleiner Postverkehr entwickelt. Wer etwas nach Hamburg verschicken wollte, aber nur bis Uelzen oder Lüneburg fuhr, gab die Post den anderen mit, und die verteilten sie dann dort, sofern der Empfänger auf dem Weg lag. Sören hatte zum Beispiel ein Patenkind in Göttingen, sodass Hanna, die täglich zwischen Uelzen und Göttingen unterwegs war, regelmäßig Grußkarten und Päckchen für den kleinen Kevin mitnahm. Sehr praktisch.

Wer keine Post zu verschicken hatte, nutze die Zugstrecke als Handelsroute. Ich musste meiner Frau und meinen Freunden regelmäßig Donuts, Comics und ausgefallene Geburtstagsgeschenke besorgen, weil das Angebot in meiner Arbeitgeberstadt viel größer war, als zu Hause. Andere schleppten in der Adventszeit riesige Weihnachtsbäume mit sich herum und stopften sie ins Gepäckfach, weil diese neben ihrem Arbeitsbahnhof günstiger waren, als in der Heimat.

Hendrik musste ich vier Tage lang dabei helfen, Umzugskisten vom Hamburger Hauptbahnhof in sein Büro zu tragen. Nach seiner Beförderung hatte er ein Einzelbüro bekommen, das er nach und nach mit Bildern, Pflanzen, einem Zimmerspringbrunnen und einem kleinen Kickertisch dekorierte.

Und Andreas, Uwe und ich opferten einmal drei Tage lang unseren Feierabend, um Maren dabei zu helfen, ihre bei Ikea in Hamburg-Altona gekaufte Wohnwand samt Sofa und Glasvitrine vom Lüneburger Bahnhof in ihr Wohnzimmer zu schleppen und aufzubauen.

Im Zug hatte der Schaffner beim Anblick der vielen Kartons zwar kurz mit der Stirn gerunzelt, doch Maren hatte seinen sich im Keim befindlichen Tadel einfach erstickt, indem sie ihm die Schachtel mit schwedischen Fleischbällchen entgegen gestreckt hatte. Lächelnd hatte sich der nette Kartenknipser bedient und war nach einer Verbeugung verschwunden.

→ Fortsetzung folgt…

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