In den Fängen einer Fahrgemeinschaft, Teil 2 (6:30)

Zuletzt bei „Der neue Stefan“: Sören, Martina, Andreas, Uwe, Jens, Claudia, Maren… – Diese und viele andere Menschen habe ich in den vergangenen Wochen in der Bahn zwischen Niedersachsen und Hamburg  kennengelernt. Wir sind eine außergewöhnliche Fahrgemeinschaft von Berufspendlern. Wir treffen uns jeden Tag an unseren Vierertischen in der Zweiten Klasse, spielen Karten, regen uns über den Stau auf der Autobahn auf und tragen uns gegenseitig die Ikea-Einkäufe nach Hause. Jetzt wird’s Zeit für eine Party…

An einem Freitagabend hatte Andreas einmal eine ganz besondere Überraschung für uns. Ich war an dem Tag etwas spät dran und bestieg den Zug erst kurz bevor er anfuhr. Andreas musste bereits ein paar Minuten eher eingestiegen sein. Als ich unsere Vierertische erreichte, war dort jeder Platz mit einem Bierglas und einer Serviette gedeckt. Vor sich hatte Andreas eine Reihe aus sechs verschiedenen Bierflaschen aufgebaut. Als alle anderen Hamburg-Einsteiger Platz genommen hatten, begann der Vortrag:

„Also, wir waren ja am Wochenende in Franken und haben da so eine Bierwanderung gemacht. Da kommt man an mehreren Brauereien vorbei und aus jeder habe ich eine Flasche mitgebracht. Wollt ihr mal probieren?“

Zustimmendes Nicken und Brummen, dann wurde die erste Flasche geöffnet und ihr Inhalt gerecht verteilt.

„Dies ist eine etwas dunklere Variante, aber sehr süffig, aus dem Renninger-Krug“, erzählte Andreas, wobei er das Wort Krug „Gruuch“ aussprach, was seinem Verständnis nach dem fränkischen Dialekt offenbar am nächsten kam. Andreas war bemüht, seinen Vortrag so realistisch wie möglich zu gestalten.

Alle weiteren Mitglieder unserer Gemeinschaft, die an den kommenden drei Stationen zustiegen, kamen ebenfalls in den Genuss eines Bieres aus einem fränkischen „Gruuch“. Das war eine schöne Idee von Andreas und alle gingen happy und leicht angetrunken ins Wochenende.

Ich hatte zwei Wochen später auch eine tolle Idee. Und zwar wollte ich in meinem Garten ein Sommerfest veranstalten, zu dem ich alle unsere Mitglieder einladen wollte. Das hatte es nämlich noch nie gegeben.

Ich hatte alles bestens vorbereitet. Hatte den Termin auf einen Samstag gelegt, damit auch alle kommen konnten. Hatte Grillfleisch besorgt und Bierfässer. Hatte mir mehrere Biergartengarnituren und eine Zapfanlage ausgeliehen und ein paar neue Kartenspiele besorgt. Und ich hatte bei meinen Nachbarn Bescheid gesagt, dass es in meinem Garten vielleicht etwas lauter werden könnte.

Und es wurde laut. Und danach war in unserer Gruppe nichts mehr wie vorher.

Bier und Schnaps flossen an diesem Abend in Strömen. Der Zapfhahn war auf Dauerfeuer eingestellt und der Vorrat an Bierfässern war schneller aufgebraucht, als ich gedacht hatte. Ich musste meine eiserne Bierreserve aus dem Keller holen. Dabei fand ich gleich noch zwei angebrochene Flaschen Obstler und mehrere Einmachgläser mit in Alkohol eingelegten Zwetschgen, die meine Oma immer mitbrachte.

Dieses Notprogramm schien bei allen gut anzukommen.

Alvan, ein Freiberufler, der zweimal pro Woche zwischen Hannover und Lüneburg pendelte, offenbarte uns im Laufe des Abends seine russischen Wurzeln und schmetterte gegen Mitternacht lautstark sowjetische Kampflieder. Die Flasche Wodka, die er währenddessen in der Hand hielt, hatte er allerdings nicht von mir. Er musste die mitgebracht haben.

Holger und Norbert verkrümelten sich irgendwann mit Martina in eine dunkle Ecke, um Strip-Skat zu spielen. Lautes Gekicher drang immer wieder aus ihrer Richtung. Norbert kam später zu uns zurück gewankt, sein Hemd locker um die Hüften gebunden. Offenbar hatte er das Spiel gewonnen. Oder auch nicht, denn von Martina und Holger fehlte danach jede Spur.

Die letzten Gäste verließen meinen Garten gegen halb drei, nachdem ich das Feuer gelöscht hatte, das Nils, Sebastian und die irre Jessica, drei Lüneburg-Hamburg-Pendler, auf meinem Grill mithilfe des Inhalts meiner Altpapiertonne entzündet hatten.

Ich fand den Abend eigentlich recht lustig und gelungen. Von den Nachbarn hatte sich offenbar keiner gestört gefühlt und auch unser Gemüsegarten sowie der Mähroboter hatten die Party unbeschadet überstanden. Ich war glücklich, so eine tolle Feier für meine neuen Freunde veranstaltet zu haben. Das würde den Zusammenhalt in unserer Gemeinschaft sicherlich noch verstärken, dachte ich.

Von wegen.

Die gravierenden Folgen der Partynacht in meinem Garten wurden erst am darauffolgenden Montag deutlich. Sören und ich begrüßten uns noch ganz normal und machten im Zug mit Holger und Norbert ein paar Scherze über Rolf und Regina (Lüneburg-Harburg), die sich bei der Feier nach dem vierten Jägermeister offenbar ermutigt fühlten, ein AC/DC-Luftgitarrensolo vorzuführen.

Als der Zug in Uelzen hielt, wurde es jedoch still. Vor allem bei Holger. Martina näherte sich, würdigte uns aber keines Blickes und nahm wortlos ein paar Reihen hinter uns Platz.

Fragend schauten wir in Holgers Richtung. Der zuckte hilflos mit den Achseln.

„Dass sie verheiratet ist, wusste ich nicht“, sagte er. „Sonst hätte ich sie auf der Party doch niemals angebaggert.“

Wenigstens Uwe setzte sich neben uns, hatte aber auch keine guten Nachrichten.

„Jens werden wir leider nicht mehr wiedersehen“, erzählte er. „Bei der Feier hat er mir nach dem dritten Bier gebeichtet, dass er eigentlich schon seit vier Monaten arbeitslos ist und nur noch jeden Tag wegen unserer Gemeinschaft gependelt ist. Doch jetzt, wo wir das wissen, ist damit wohl Schluss.“

Leider nahm das Ende unserer Fahrgemeinschaft damit seinen Lauf. Uwe ging einen Monat später spontan in Frührente und brach alle Kontakte zu uns ab.

Vielen anderen war es offenbar ebenfalls peinlich, dass sie sich bei meiner Party so hatten gehen lassen. Sie vermieden im Zug jeden Augenkontakt, grüßten nur noch kleinlaut und setzten sich ein paar Reihen weiter weg oder gleich einen ganzen Waggon weiter.

Ich hatte zuletzt nur noch mit Sören Kontakt. Skat war schon lange kein Thema mehr und unsere Gespräche auf dem Weg zur Arbeit wurden mit der Zeit auch immer dünner. Irgendwann sagte er mir ebenfalls Lebewohl. Er habe einen Job in der Nähe seines Zuhauses gefunden und könne jetzt zu Fuß zur Arbeit gehen, sagte er.

Ich sitze jetzt wieder alleine in einem Zweiersitz in der zweiten Klasse, lese Bücher oder höre Musik. Und von ausgelassenen Skatrunden an einem Vierertisch versuche ich mich fernzuhalten.

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