Nur 11 Grad, keine Sonne, kalter Wind. Die Hansestadt Bremen zeigt sich ungemütlich an diesem Sonntag Anfang Oktober. Trotzdem herrscht Euphorie in der Startaufstellung am Rathaus. Vor allem bei mir. Ich stehe vor dem ersten Halbmarathon meines Lebens.
Ich versuche, mich mit Trippelschritten auf der Stelle warmzuhalten, während meine Laufuhr auf der Suche nach dem GPS-Signal ist. In meinem Mund zergeht ein Stück Traubenzucker. Die übrigen 3800 Läufer um mich herum bereiten sich auf ähnliche Weise vor. Meine Uhr vibriert. Das Signal steht.
Startschuss um kurz nach halb 12. Die Menge setzt sich langsam in Bewegung. Sehr langsam. Ich benötige rund drei Minuten, bis ich die Startlinie überquere. Meine Zeit läuft.
Die ersten Kilometer vergehen wie im Flug. Kurz nach dem Start entdecke ich meine Frau am Straßenrand. Sie macht das Vorher-Foto. Bei Kilometer 2 führt die Strecke durch eine Bahnunterführung. Immer wieder brandet Jubel auf. Die Akustik ist traumhaft, die Laune mehr als gut.
Nach 3,5 Kilometern kommen mir auf der gegenüberliegenden Straßenseite die ersten Läufer schon wieder entgegen. Ich muss mich kurz vor dem ersten Wendepunkt befinden. Am Straßenrand steht ein gutgelaunter DJ, der die Menge anheizt, Zuschauer wie Läufer. Nach dem Wendepunkt bei Kilometer 4,5 befinden wir uns nun auf der gemeinsamen Strecke mit den Marathonläufern. Ein paar Meter vor mir entdecke ich den Pacemaker mit der Aufschrift „4:15“ und versuche, ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Bei Kilometer 6 stehen die ersten Getränke. Das Personal scheint etwas überfordert und kommt mit der Versorgung nur langsam hinterher. Doch fürs erste reicht’s. Ich laufe nun durch den Bürgerpark. Am Wegesrand steht ein einsamer DJ unter einem Pavillon. Er spielt die „Chemical Brothers“, während sich nebenan im Gebüsch die Läufer erleichtern.
Der nächste Wendepunkt kommt kurz nach Kilometer 7. Die Strecke verläuft nun auf beiden Seiten eines Grabens. Die Läufer rufen sich über das Wasser Grüße zu. Ich hole mir sympathische Extrapower von einem Super-Mario-Pilz auf einem hochgehaltenen Pappschild am Straßenrand. Ein Blick auf die Uhr. Meine Kilometerzeiten sind im Rahmen. Ich fühle mich gut, versuche aber weiterhin, mich zurückzuhalten. Das Rennen wird noch schwer genug.
Die Kilometermarken 9 und 10 befinden sich auf der Hemmstraße. Was für eine tolle Atmosphäre! Überall stehen Menschen an der Seite. Klatschen, jubeln, klappern, trommeln. Weitere Power-Pilze auf Pappschildern. Kinder halten ihre Hände hoch und freuen sich, wenn sie abgeklatscht werden. Auch die Mütter bedanken sich. Es ist ein Fest.
Plötzlich kommt jemand vom Straßenrand auf mich zu und läuft kurz neben mir her.
„Wer ist denn CNCR?“, fragt er mich und spielt dabei auf meinen T-Shirt-Aufdruck an.
„Cancer!“, antworte ich japsend. „Krebs, verstehst Du?“
„Ach so…“, sagt er und dreht wieder ab. Er wirkt enttäuscht. Wahrscheinlich hatte er mit einem politischen Statement gerechnet. Sorry, Bro. Ich laufe heute gegen den Krebs. Ein kleiner Feuerwehrmann Sam winkt mir zu, dann wird die Atmosphäre wieder ruhiger. Die Hälfte der Strecke ist geschafft.
Bei Kilometer 11 hatte ich meinen nächsten Getränkestopp eingeplant. Der auf dem Streckenplan verzeichnete Versorgungspunkt entpuppt sich allerdings als Stand mit alkoholfreiem Bier. Nicht ideal. Aber ich brauche Flüssigkeit, also greife ich zu. In der Gosse stapeln sich die Plastikbecher.
Ich laufe nun durch Industrie- und Hafengebiete. Baustellen, Sandkuhlen, Baumstümpfe, Löcher in der Erde. Vorsicht ist geboten. Die Strecke führt über den Hof einer Cornflakesfabrik. Dann geht’s auf die Weserpromenade. Endlich am Wasser.
Den Verpflegungspunkt bei Kilometer 13,5 lasse ich links liegen. Bei Kilometer 16 soll laut Plan der nächste kommen. Der passt mir besser.
Bei Kilometer 14 sehe ich meine Frau wieder. Sie macht das Zwischendurch-Foto. Das gibt neue Motivation.
Es geht weiter die Weserpromenade entlang. Vorbei an der Schlachte und der Alexander von Humboldt. Am anderen Ufer reihen sich die Clubhäuser der Wassersportvereine aneinander. Ein bekanntes Revier.
Die Atmosphäre wird ruhig. So langsam spüre ich meine Beine. In der Ferne erhebt sich das Weserstadion. Die Laune um mich herum ist gut. Die Läufer machen Selfies. Zwischendurch der nächste DJ mit warmen Worten.
Die erhoffte Getränkepause bei Kilometer 16 fällt aus. Kein Becherstand weit und breit. Nicht gut. Ich versorge mich mit einem meiner Energie-Gels. Das muss vorerst reichen.
Es folgt der Anflug auf das Weserstadion. Durch einen dunklen Tunnel geht es ins Innere. Wir laufen an der schmalen Seite über Stein und anschließend an der langen Seite über Kunstrasen. Ein Mensch mit einem Werder-Mikrofon in der Hand feuert die Menge an und liest ab und zu eine Startnummer vor. Die Ränge sind komplett leer. Nach einer Minute bin ich wieder draußen. Diese Station hatte ich mir spektakulärer vorgestellt.
Kurz nach dem Stadion, bei Kilometer 17,5 steht nun ein Getränkestand, der auf dem Plan nicht verzeichnet war. Ich versorge mich aus zwei Werder-Pappbechern mit Wasser und laufe motiviert weiter.
In der nächsten Kurve folgt das schlimmste Hindernis dieser Strecke: Ein DJ, der Wolfgang Petry spielt. Ich lege den Turbo ein, um dieser Qual so schnell wie möglich zu entfliehen.
Es geht jetzt wieder lange geradeaus. Ich versuche, konzentriert zu bleiben, während ich die Kilometermarken 18, 19 und 20 passiere. Das Hochgefühl hält sich in Grenzen. Weiter als 20 Kilometer am Stück bin ich noch nie gelaufen. Doch ich bin auch schon ziemlich platt.
Die nächsten Meter werden die schlimmsten. Es geht durch eine dunkle Unterführung, wahrscheinlich bergauf. Kam da noch eine Kurve? Keine Ahnung. Dann wird die Strecke ganz schmal. Rechts und links kommen die Zuschauer ganz nah. Applaus. „Gleich hast du es geschafft!“, ruft jemand.
Die vorletzte Kurve. Ich sehe meine Frau. Das Zieleinlauf-Foto. Gesicht, reiß dich zusammen. Die letzte Kurve. Zielgerade. Endspurt zwischen Straßenbahnschienen. Der Ansager quasselt jeden noch so erschöpften Läufer ins Ziel. Ich laufe wie von selbst. Alle scheinen nur mir zu applaudieren. Ich muss lächeln. Gänsehaut.
Dann die Ziellinie. Endlich. Unfassbar. Halbmarathon. Ich.
Luft. Wasser. Atmen. Staunen.
Meine Frau macht das Nachher-Foto. Freude. Danke.
[…] – September: erstes 14-Kilometer-Training überhaupt– Oktober: erster Halbmarathon […]
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Moin Stefan,
bin mal wieder auf Deiner schönen Seite.
Hut ab und Gratulation zu Deinem ersten Halbmarathon.
In Bremen habe ich auch schon mal beim Marathon gefroren …
Ist da wohl immer kalt …
Hier bei der CZ ist alles beim alten, ich habe noch 571 Tage,
dann gehe ich in die wohlverdiente passive Altersteilzeit.
Ich wünsche Dir und Deiner Frau eine besinnliche Vorweihnachtszeit und irgendwann dann
einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Liebe Grüße
Dein ehemaliger Kollege
Andreas Ziesemer
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Moin Andreas,
vielen Dank! Ja, Halbmarathon ist ein aufregendes Projekt, obwohl es mir in Bremen auch etwas zu kalt war. Und das ist besonders fies, wenn man den ganzen Sommer schön im Warmen trainiert hat und sich dann zum Wettkampf plötzlich dick einpacken muss. Aber es wird nicht mein letzter HM gewesen sein und der ganze wird auch langfristig dran glauben müssen. ;-)
Es ist schön, mal wieder etwas von der CZ zu hören. Ich freue mich, dass ich viele ehemalige Kollegen unter meinen Lesern weiß. Alles beim alten – ist das jetzt gut oder schlecht? :-) Ein bisschen hat sich ja schon verändert, so wie ich das mitbekommen habe. Aber die paar Tage bis zur Altersteilzeit bekommst du auch noch rum.
Ich wünsche Dir und Deiner Familie (und natürlich auch den Kollegen) ebenfalls eine schöne Weihnachtszeit!
Viele Grüße!
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