„Und da kullerten die Tränen…“ So zumindest beschrieb meine damalige Klassenlehrerin meiner damaligen Mutter die damalige Situation, in der mir ganz offensichtlich klar geworden war, dass ich eine Brille brauchte. Ich war zwölf Jahre alt und hatte erfolgreich und ohne Zwischenstopps die sechste Klasse erreicht. Damals gab es noch die Orientierungsstufe, diese zweijährige Findungsphase zwischen Grundschule und Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. Plötzlich konnte ich nicht mehr erkennen, was auf der Tafel stand, wenn ich im hinteren Bereich des Klassenraums saß. Eine Zeitlang konnte ich die beginnende Kurzsichtigkeit noch mit zusammengekniffenen Augen überbrücken. Doch wie auch die Orientierungsstufe mit der Entscheidung für eine weiterführende Schule endet, so musste ich auch für meine Augen die Entscheidung für eine weiterführende Sehhilfe treffen.
Der Schlüsselmoment war der Tag, an dem die Klassenlehrerin uns aufforderte, etwas von der Tafel abzuschreiben und ich bei bestem Willen nichts entziffern konnte. Trotz beherztem Zusammenkneifen der Lider wollten sich die Buchstaben auf der grünen Fläche nicht scharf stellen. Hilflos blickte ich mich um und fragte in meiner Verzweiflung einen Mitschüler, ob ich von ihm abschreiben dürfte. Verwirrt blickte dieser mich an. In diesem Moment muss ich mir der Absurdität meiner Worte bewusst geworden sein. Ich vergrub mein Gesicht in vorpubertärer Manier in den Armen auf meinem Schreibtisch und brach in Tränen aus. Das bemerkte natürlich die Lehrerin, die mich kurzerhand in die erste Reihe setzte, nachdem sie das Problem erkannt hatte. Anschließend suchte sie das Gespräch mit meinen Eltern und kurz darauf bekam ich meine erste Brille.
Meine erste Brille hatte einen grasgrünen Rahmen aus Metall und dazu Sportbügel aus weißem Gummi. Nicht besonders modisch, aber auch nicht besonders schlimm. Passend zu den frühen 90er-Jahren. Auf den ersten Tag, an dem ich mit Brille zur Schule kam, hatte sich meine Lehrerin offenbar vorbereitet, denn sie trat mir freudestrahlend entgegen und gab der ganzen Klasse deutlich zu verstehen: „Oh, das sieht aber gut aus!“ Ich hatte sie sofort durchschaut, war ihr jedoch dankbar für diesen Empfang.
Aus heutiger Sicht ist eine Brille sicherlich nichts Bemerkenswertes mehr, doch Anfang der 90er waren Hänseleien anlässlich dieser Sehhilfe durchaus noch üblich. Geistreiche Begrüßungen wie „Na, Vierauge“ oder Sprüche wie „Warum guckst du denn durchs Fenster? Komm doch rein“ musste ich mir gelegentlich anhören. Aber hey, meine Lehrerin hat gesagt, dass das gut aussieht, also leckt mich!
Ich hatte nun also eine Brille. Und fand das mit der Zeit gar nicht mehr so schlimm, glaube ich. Und wenn doch, dann kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Gut möglich, dass die Erinnerung daran auch von dem Erlebnis überdeckt wird, bei dem ich diese allererste Brille wieder loswurde. Das war nämlich alles andere als angenehm und geplant schon mal gar nicht.
Im darauffolgenden Sommer ging ich bereits seit mehreren Monaten meinem neuen Hobby nach: dem Rudern. Zuvor hatte ich mehrere Jahre lang Tischtennis gespielt und obwohl ich gar nicht so schlecht war und sogar ein paar Ligaspiele mit der Mannschaft gewinnen konnte, musste irgendwann etwas Neues her. Eine neue Orientierungsstufe gewissermaßen. Über einen Klassenkameraden kam ich zum Taekwondo, doch die Begeisterung für diesen Kampfsport hielt nur eine Unterrichtsstunde. Ein anderer Kompagnon nahm mich etwas später mit zum Rudern. Und bis heute bin ich diesem Sport treu geblieben.
Nun stellte sich aber heraus, dass ein neues, wassernahes Hobby zusammen mit der noch ungewohnten Sehhilfe eine gefährliche Kombination ergab. Mein Ruderrevier befindet sich auf der Aller, einem im Stadtgebiet ruhig fließenden, meist flachen Fluss ohne Schiffverkehr. Im Sommer bietet es sich an, die schweißtreibende Trainingseinheit mit einem Sprung vom Steg ins kühle Wasser abzuschließen. Ich wollte es besonders spektakulär machen, nahm reichlich Anlauf und landete nach einem ordentlichen Satz in den Fluten. Herrlich!
Nach dem Auftauchen stimmte jedoch etwas nicht. Meine Umgebung hatte sich verändert, war irgendwie unscharf geworden. Das musste bestimmt daran liegen, dass auf der Brille jetzt… Oh Gott, die Brille! Die hatte ich ja ganz vergessen abzunehmen! Wassertretend durchpflügte ich mit den Armen den Fluss und hoffte, dass die Brille noch nicht allzu weit untergegangen war und mir wieder in die Hände fiel. Ich tauchte unter, doch in dem trüben Wasser war nichts zu erkennen. Ich glitt ein paar Mal bis zum Grund und wühlte dort herum, doch außer Schlamm und kleinen Steinen bekam ich nichts zu fassen. Meine Brille war weg. Untergegangen und von der Strömung fortgetragen. So ein Mist.
Zum ersten Mal seit Monaten musste ich alltägliche Dinge wieder ohne Brille erledigen. Duschen funktionierte. Nach Hause radeln auch. Kurze Zeit später bekam ich eine neue Brille. Ich habe nie wieder eine verloren. Beschädigt wurden viele, meistens beim Basketball. Aufgehoben habe ich sie alle.
Vielleicht ist ja meine erste Brille noch irgendwo da draußen. Es wird ja auch immer mal wieder eine 150 Jahre alte Flaschenpost gefunden. Und die Geschichte von dem kleinen Jungen, dessen Actioncam von England über die Nordsee bis zur Hallig Süderoog getrieben ist, gibt mir ebenfalls Mut. Wer also irgendwo am Flussufer oder am Strand auf eine vielleicht noch leicht grüne Brille mit verrotteten weißen Sportbügeln stößt, möge sich doch bitte umgehend bei mir melden. Please. Arigato.
[…] gut 30 Jahren bin ich nun schon Brillenträger. Und das größtenteils aus Überzeugung und weil es für mich in meinen Augen (hihi!) keine […]
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