Vor kurzem habe ich eine Krebserkrankung begreifen und überstehen müssen. In Netter Versuch, Krebs! – Teil 1 habe ich die Erlebnisse zwischen der erschütternden Diagnose und der ersten Operation geschildert. Netter Versuch, Krebs! – Teil 2 behandelte die Ereignisse rund um die erste OP. Im dritten und letzten Teil geht es um den zweiten, alles entscheidenden Eingriff und meinen jetzigen Zustand, bei dem die Worte „Zombiegehirn“ und „Cervelatwurst“ eine wichtige Rolle spielen.
Zwischen der erfolgreich verlaufenen Runde zwei und der alles entscheidenden Runde drei im Kampf zwischen dem Peniskrebs und mir bekam ich zunächst zehn Tage Fronturlaub. Während ich mich zu Hause von der Krebsoperation und dem damit verbundenen zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt erholte, wurde mir klar, warum die Ärzte den noch folgenden zweiten Eingriff an den Lymphknoten nicht gleich mit erledigt hatten. Mit den beiden Baustellen aus der ersten OP hatte ich nämlich erst mal genug zu tun.
Ohne Ärzte und Schwestern musste ich mich um die Pflege meiner Wunden nun selbst kümmern. Es hatte mich einige Überwindung gekostet, wenige Tage nach der OP zum ersten Mal einen Blick auf die operierten Stellen zu werfen. Wer regelmäßig Zombiefilme schaut, dem ist der Anblick nicht ganz unbekannt. Wenn der Zombiejäger dem Untoten mit einer Schrotflinte einen Teil der Schädeldecke wegballert und dann das nackte Gehirn zu sehen ist – so in etwa sah es ein paar Tage lang bei mir untenrum aus. Zusätzlich hatte ich auf dem linken Oberschenkel, wo mir die Haut für die Rekonstruktion der Eichel entnommen wurde, eine Schürfwunde von der Größe einer Kreditkarte, die farblich in Richtung Cervelatwurst ging. Bei dieser Kreditkarte fehlte allerdings eine Ecke, sodass sich daraus eine ungleichmäßige Form ergab. Ich hätte mir gewünscht, dass ich mir vorher ein Muster hätte aussuchen dürfen, vielleicht einen Stern oder einen Smiley. Damals beim Kieferorthopäden durfte ich mir schließlich auch die Farbe meiner Zahnspange aussuchen.
Ein paar Tage war ich also zu Hause mit cremen, verbinden und ausruhen beschäftigt, bevor ich für die zweite Operation nach Rostock zurückkehrte. Jetzt sollten die Lymphknoten unter die Lupe genommen werden. Kleine, mysteriöse Gebilde, die ihren wahren Zustand erst preisgeben, wenn man sie unter das Mikroskop schiebt. Und dafür müssen sie entnommen werden. Wobei nicht gezielt bestimmte Knoten entfernt werden können, da sie mit bloßem Auge von Fettgewebe nicht zu unterscheiden sind. Die Ärzte entnehmen in der betroffenen Körperregion einfach einen ganzen Batzen Gewebe, in dem sich die Knoten befinden. Während der OP schaut sich ein Pathologe das Gewebe genauer an und kann erst dann sagen, wie viele Lymphknoten tatsächlich entfernt wurden und ob diese Krebs aufwiesen.
Das Betasten der entsprechenden Regionen war bei mir unauffällig geblieben und auch das CT, bei dem von Krebs befallene Körperstellen durch Röntgenstrahlen sowie ein schwach radioaktives Mittel sichtbar gemacht werden, war nicht eindeutig. Trotzdem bestand kein Zweifel an der Notwendigkeit dieses zweiten Eingriffs, denn das Risiko, dass der Krebs sich schleichend ausbreitet und im Lymphsystem zu einem späteren Zeitpunkt auftaucht, war einfach zu groß. Also los.
Bei meinem zweiten stationären Aufenthalt in der Rostocker Uniklinik war ich längst nicht mehr so aufgeregt wie beim ersten Mal. Der primäre und hoffentlich einzige Tumor war weg, die Hälfte der Behandlung war somit um und auf der Station kannte ich mich mittlerweile aus und freute mich auf bekannte Gesichter. Blut abnehmen, Aufklärungsgespräch und das nervige Dreibettzimmer – alles schon gesehen. Doch die Geduldsprobe, die ich bereits vor der ersten OP bestehen musste, sollte jetzt auf das nächste Level gehoben werden.
Bei meiner Aufnahme hatte mich der Stationsarzt schon darauf vorbereitet, dass die OP vielleicht nicht wie geplant am nächsten Tag durchgeführt werden könnte, weil sich durch verschiedene Notfälle und viele Patienten einiges aufgestaut hätte. Am nächsten Morgen bei der Visite klang das jedoch gleich wieder viel zuversichtlicher und so bereitete ich mich innerlich wieder auf die Reise in den Operationssaal vor. Wie beim letzten Mal wurden Frühstück, Mittagessen und Kaffee an mir vorbei getragen, ohne dass ich davon kosten durfte. Um 16 Uhr, gerade als ich mich fragte, wie lange hier denn eigentlich operiert wird, überbrachte mir eine Ärztin die schlechte Nachricht, dass das heute leider nichts mehr werden würde. Ich machte mich schick mit Jogginghose und Badelatschen und holte mir beim Bäcker gegenüber des Klinikeingangs ein großes belegtes Baguette, einen riesigen Schoko-Muffin und eine Cola. Das dürftige Krankenhausabendessen eine Stunde später ließ ich mir natürlich trotzdem nicht entgehen.
Neuer Tag, neues Glück. Bei der Visite am nächsten Morgen standen drei optimistische Ärzte vor mir, die mir versicherten, dass es heute auf jeden Fall soweit sein würde. Um acht Uhr „vielleicht halb neun“ bekäme ich meine vorbereitende Beruhigungstablette und kurz darauf würde ich abgeholt werden.
Leider müssen kurz nach dieser Visite kollektiv alle Batterien in den Uhren der Ärzte und an den Wänden der Station ausgefallen sein, denn bis zum Mittag sollte ich keinen Mediziner mehr zu Gesicht bekommen. Dass die Zeit in manchen Regionen in Ostdeutschland stillzustehen scheint, hatte ich immer vermutet, doch in dieser Klinik ging mir dieses Phänomen langsam auf die Nerven.
Um 14 Uhr war ich kurz davor, meine Koffer zu packen und einen Termin für die kommende Woche zu vereinbaren, als plötzlich die Tür aufflog und die Schwester mir mit den Worten „Es geht los!“ die Beruhigungspille verabreichte. Was jetzt folgte, kannte ich bereits. Pille, Nachthemd, Thrombosestrümpfe, Bett. Im OP dann wieder die vielen Fragen und der Anästhesist. Diesmal leitete er die Narkose mit den Worten „Sie können sich schon mal überlegen, wohin sie sich gleich träumen möchten“ ein. Ich hörte mich noch „New York“ sagen, dann war ich weg.
Diesmal war ich bereits nach einer Stunde wieder im Aufwachraum. Die OP hatte also nicht so lange gedauert – ein gutes Zeichen. Dafür hatte ich größere Schmerzen als beim ersten Mal. Eine Spritze und eine Tablette später waren sie aber nicht mehr so schlimm.
Wie gewohnt musste ich bis zur Visite am nächsten Morgen warten und diesmal hatten die Ärzte allen Grund zum Optimismus. Die gute Nachricht lautete, dass mir nur die Minimalzahl an Lymphknoten entfernt worden war und dass in ihnen zwar Entzündungen, aber kein Krebs nachgewiesen wurde. Die alles entscheidende Runde drei ging somit ebenfalls an mich.
Nach dieser zweiten Operation war klar, dass keine weiteren Behandlungen wie Chemo- oder Strahlentherapie notwendig sein würden. In den kommenden Wochen konnte ich mich voll und ganz auf meine Genesung und die Verheilung der körperlichen und seelischen Wunden konzentrieren.
Die ganze Sache hat somit einen optimalen Verlauf genommen. Der Krebs ist erfolgreich entfernt worden und hat sich nicht auf andere Körperregionen ausgebreitet. Mittlerweile hat sich das Zombiegehirn in meinem Schritt wieder in ein normal aussehendes und voll funktionstüchtiges Geschlechtsorgan verwandelt. Natürlich ist jetzt eine gewissenhafte Nachsorge notwendig. Momentan befinde ich mich noch in der Erholungsphase und habe körperlich noch längst nicht den Stand von vor der ersten OP zurückerlangt. Auch werde ich mich, was die Krebsvorsorge im Allgemeinen angeht, wahrscheinlich früher als üblich mit Darmspiegelungen und dergleichen auseinandersetzen müssen. Doch diesen Preis nehme ich gerne in Kauf. Trotz der schlimmen Diagnose im Sommer hat sich die ganze Sache in eine Richtung entwickelt, die ich mir vorher kaum erträumen konnte.
Wenn man sich mitten in einer solch lebensverändernden Situation befindet, kann man die einzelnen Fortschritte und Vorgänge gar nicht richtig fassen. Bei mir wird es wahrscheinlich noch einige Zeit dauern, bis ich das ganze Ausmaß begriffen habe und realisiere, was mir in diesem Jahr da eigentlich zugestoßen ist. Vielleicht ist dieser Schuss vor den Bug zum jetzigen Zeitpunkt meines Lebens aber auch zu etwas gut. Ich glaube nicht an Zeichen, aber wenn diese Erfahrung dazu führt, dass ich in Zukunft noch besser auf meinen Körper achte und gewissenhaft alle Vorsorgeuntersuchungen wahrnehme, dann habe ich ein langes und gesundes Leben vor mir.
Ein Gutes hat das alles schon jetzt: Ich habe viel neuen Stoff für meinen Blog bekommen und nach dieser vergleichsweise ernsten, mehrteiligen Einleitung werde ich in unregelmäßigen Abständen sicherlich immer wieder auf dieses Thema zurückkommen, um einzelne Aspekte, auch lustige und absurde, aufzugreifen und zu erzählen. Schon kurz nach der Krebsdiagnose war mir klar, dass ich die damit verbundenen Erlebnisse textlich auf jeden Fall verarbeiten werde. Kurz hatte ich überlegt, ob ich dafür einen neuen, monothematischen Blog aufbauen soll. Doch allzu ernst soll die Aufarbeitung nicht werden und genau wie die anderen Geschichten und Beiträge hier auf diesem Blog gehört jetzt auch die Krankheit zu meinem Leben und damit zu „Der neue Stefan“.
ENDE (dieser Geschichte)
[…] aus dem Oberschenkel. Und davon, dass ich zumindest meine Harnröhre behalten durfte. Und von der Entfernung der Lymphknoten in der Leiste. Und schließlich von der Korrektur der Vorhaut eineinhalb Jahre […]
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[…] meiner zweiten Operation, bei der mir die Lymphknoten in der Leiste entfernt wurden, musste ich für gut sechs Monate […]
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[…] Zufrieden ließ ich die nun folgenden Krankenhaustage über mich ergehen. Kanister, Schläuche und Pumpen baumelten an mir herunter. Alles wegen des komplizierten Lymphsystems. Am 1. Oktober 2016 wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. (Kompletter Beitrag: Netter Versuch, Krebs! Teil 3) […]
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Hi, Stefan…. erstmal ein ganz herzliches Dankeschön, für diesen detailierten Beitrag Deiner Krankheitsgeschichte… da „Peniskrebs“ in den westlichen Ländern offenbar noch nicht so verbreitet ist, sind wir für jeden Beitrag dankbar.
Uns betrifft das Thema ganz frisch… mein Schweigervater ist erkrankt, und auch schon operiert! Für uns war es heute wirklich ein Schock, als er sagte, dass man seinen kompletten Penis (oder teils, dass wissen wir noch nicht genau) entfernen musste… CT wurde heute nochmal gemacht… meine Frage wäre, wo Du das doch schon alles durch hast … (Der Norden Deutschlands ist besonders interessant, weil Papa aus Emden kommt) wo sind den die Spezialisten, an die wir uns wenden können?!!
Ganz herzlichen ❤️ Dank und liebe Grüße Mel
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Hi Melanie! Danke für deinen Kommentar. Ich freue mich, dass du mich gefunden hast. Meine Spezialisten habe ich an der Uniklinik in Rostock gefunden. Allerdings wurden bei mir Operation und Rekonstruktion in einem Abwasch erledigt. Ich hoffe, ich kann dir damit helfen und stehe für weitere Fragen gern zur Verfügung. Alles Gute für euch!
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Hallo Stefan, vielen Dank für die schnelle Antwort 🙂! Im Moment scheint es so, dass ich wohl etwas übereifrig mit dem ganzen Thema umgehe. Naja, ich habe halt auch schon viele Erfahrungen im Umgang mit Ärzten und KH… aber ich komme sehr gerne auf Deine Hilfe zurück, wenn weiter Handlungsbedarf ist! Ich finde es ganz toll, dass Du diesem doch eher seltenen Thema einen Raum gibst und Deine Erfahrungen mit uns teilst. Ich hoffe, dass es Dir gut geht und wünsche Dir erstmal alles erdenklich Gute, für Dein weiteres Leben 🍀🍄💪🏻👍🏻☀️🙂 Alles Liebe und viele viele Grüße Melanie
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Deine Geschichte bewegt mich zutiefst, Stefan. Eine ähnliche Erfahrung, nur leider mit anderem Ausgang, ist Bestandteil meines eigenen Erfahrungsschatzes, wenn auch leider nicht ich selbst vom Krebs betroffen war. Ich hätte mir gewünscht, ich wär’s gewesen. Aber es war mein Lebenspartner, den die Krankheit dahinraffte und damit mein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Ich wünschte mir damals nichts sehnlicher, als an seiner Stelle ‚gehen‘ zu dürfen.
In der Zwischenzeit bin ich nach einen zugegebenermassen lang anhaltenden Tief längst über den Berg und befinde mich seit geraumer Zeit wieder auf der ‚Sunny Side of the Street‘. Stabil. Trotzdem hat die Lektüre deiner Trilogie all die alten Gefühle an die Oberfläche gespült, mir das Wasser in die Augen getrieben und mich unweigerlich zur Frage geführt, wie es wohl deiner Frau in dieser Zeit der Ungewissheit und Bange ergangen sein mag … Angehörige würden oft stärker leiden als die Patienten selber, klärte mich damals der zuständige Onkologe auf.
Auf deinen Blog bin ich gestossen, weil ich Seppo folge und gelegentlich – wenn ich grad Lust und Zeit dazu habe (was übrigens meist das selbe ist) – einen seiner Beiträge lese … zum Beispiel den von heute, der mich glücklicherweise auf deine Fährte und die damit verbundene Geschichte brachte, deren positiver Ausgang in mir ein Gefühl der Dankbarkeit und Erleichterung auszulösen vermochte, selbst wenn dies am Ausgang meiner eigenen Geschichte nichts zu ändern vermag. Ich freue mich für dich, für deine Frau und für alle anderen, denen es je gelang oder dereinst gelingen wird, dieser Hölle zu entkommen.
Weiterhin alles Gute!
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[…] Weiter zu Netter Versuch, Krebs! – Teil 3 […]
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Na Gottseidank und Schweinglück gehabt!!! Holz – wir brauchen Holz…
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;-)
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Hallo Küblette. Herrschaftszeiten, was für’n Kack. Das war jetzt erstmal genug für diese Saison. Das Leben ist herrlich… aber auch leider lebensgefährlich. Von einem zum anderen Moment wirst du so derartig ausgebremst und für alle anderen dreht sich alles weiter. Ich wünsche dir -wie alle deine Freunde- von Herzen das Beste und die drei Stinkefinger kann ich gut verstehen! Liebe Grüße aus Kiel.Nani
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Hi Nani, Danke für deine Nachricht! Ja, in 2016 ist so viel passiert, das reicht eigentlich für fünf Jahre. ;-) Viele Grüße zurück!
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Du bist richtig gut.
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Huch, vielen Dank! :-)
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