Am 11. September 2001 genoss ich gerade die allerersten Semesterferien meines Lebens. Seit dem Frühjahr war ich als Student an der Uni Hamburg eingeschrieben und nun für die freie Zeit im Sommer wieder in mein Elternhaus in Niedersachsen eingezogen. Diesen spätsommerlichen Dienstag nutzte ich für Sport. An das genaue Wetter kann ich mich nicht mehr erinnern, doch für eine schöne Trainingseinheit im Ruderboot muss es wohl gereicht haben.
Nach dem Sport kehrte ich am Nachmittag nach Hause zurück. Ich hatte gerade den Flur betreten, da rief mich meine Mutter auch schon zu sich ins Wohnzimmer. Sie zeigte nur stumm auf den Fernseher, von dem ich von nun an meinen Blick nicht mehr abwenden konnte.
Eine riesige Rauchwolke schwebte über New York. Einer der Türme des World Trade Centers stand in Flammen. Aus allen Perspektiven wurden Kamerabilder gezeigt und Reporter versuchten verzweifelt, die Lage einzuordnen.
Zuerst realisierte ich gar nicht, was ich dort sah. Einen schlechten Film? Nein, dazu waren die Aufnahmen zu schlecht, die Bilder zu verwackelt. Alles viel zu real.
Was für ein schlimmer Unfall, dachte ich dann. Dachten wahrscheinlich viele. Dass ein Flugzeug ausgerechnet in ein Hochhaus fliegt.
Dann folgte das zweite Flugzeug. Die zweite Explosion. Noch mehr Trümmer, Rauch, verzweifelte Menschen. Schlagartig muss allen bewusst geworden sein, dass dies kein Unfall sein konnte.
Schließlich kollabierte der erste Turm. Wenig später sackte auch der zweite in sich zusammen. Surreale Bilder. Weltuntergangsstimmung.
Ich konnte nur zuschauen. Tausende Kilometer entfernt blieb einem nichts anderes übrig, als auf den Fernsehbildschirm zu starren und darauf zu warten, was als nächstes passierte.
Irgendwann abends telefonierte ich mit einem Freund. Wahrscheinlich wollten wir uns verabreden.
„Hast du das mit New York gesehen?“
„Ja, krass oder?“
„Krass“ war gar kein Ausdruck. Doch eine passende Beschreibung für das eben gesehene gab es sowieso nicht. Also beließen wir es dabei. Ob wir uns an diesem Abend noch getroffen haben, weiß ich nicht mehr.
Die Rauchwolke verzog sich ein paar Tage später und die Aufräumarbeiten begannen. Ich erinnere mich an eine Nachrichtenmeldung, wonach sich die Luftqualität in New York rasch verbesserte, vor allem, weil für mehrere Wochen der Flugverkehr über der Stadt eingestellt wurde.
Kurz nach dem Attentat hatte ich Angst vor einem dritten Weltkrieg und befürchtete, eingezogen zu werden. Ein Jahr zuvor hatte ich gerade meinen Grundwehrdienst beendet und war mit meinem Einberufungsbescheid für den Verteidigungsfall nach Hause geschickt worden. Dazu kam es glücklicherweise nicht.
In den darauffolgenden Jahren blieb die Katastrophe vom 11. September 2001 stets präsent. An jedem Jahrestag verfolgte ich erneut die Bilder, Dokumentationen und neuen Ermittlungsergebnisse im Fernsehen.
Einen neuen persönlichen Bezug zu den Ereignissen bekam ich Jahre später während meiner Ausbildung beim Radio. Einige der Arbeitskollegen hatten die Ereignisse während ihrer Schicht miterlebt und über sie berichtet. Eines Tages hörte ich mir im Archiv den Livemitschnitt der ersten Nachrichtensendung unseres Senders nach dem Unglück an. Es muss eine unbeschreibliche Situation damals in der Redaktion gewesen sein. Dieses Trauma war bei vielen auch Jahre später noch präsent.
Im Sommer 2011 absolvierte ich als Teil meiner Ausbildung eine mehrtägige Schulung in Hamburg. Eines Abends saß unsere Gruppe zusammen mit dem Fortbildungsleiter in lockerer Runde beim Essen zusammen. Scheinbar ohne besondere Absicht fragte er in die Runde, was wir alle denn am 11. September 2001 gemacht hätten. Wie wir das Unglück erlebt hätten. Nacheinander erzählte jeder seine Geschichte und er hörte aufmerksam zu.
„Und was ist mit dir?“, fragte schließlich jemand aus der Gruppe.
Unser Lehrer blickte in die Runde und sagte schließlich: „Am 11. September 2001 lag ich auf einem Handtuch im Central Park.“
Das hatte gesessen. Sekundenbruchteile später war allen klar, dass er nur den Central Park in New York meinen konnte. Und so erzählte er seine Geschichte.
Er sei damals für einen deutschen Fernsehsender in New York tätig gewesen, hätte an dem Tag aber frei gehabt und wollte sich im Central Park entspannen. Plötzlich sei er von einem Geräusch aufgeschreckt worden, dass er so noch nie gehört habe. Er meinte das Geräusch, das entstand, als das erste Flugzeug in das World Trade Center krachte. Natürlich packte er sofort seine Sachen und versuchte, der Sache nachzugehen. Was folgte, war vermutlich die schlimmste Erfahrung seines Lebens.
Fasziniert hörten wir ihm zu. In mir erwachte der Journalist und ich musste nachhaken. Wie war denn das so? Wie geht es einem in diesem Moment? Man kann doch danach nicht einfach nach Hause gehen, oder? Wie lange schläft man danach nicht? Ich wollte versuchen, die Stimmung von damals irgendwie nachzuvollziehen.
Er erzählte, dass er nach vier Tagen erst wieder so etwas wie zur Ruhe gekommen sei. Die ersten Tage nach der Katastrophe rund um Ground Zero seien unvorstellbar gewesen. Er habe in menschliche Abgründe geblickt, z.B. wie Menschen sich gegenseitig getötet hätten, nur um etwas zu essen zu bekommen. Nachts im Bett sei er immer wieder hochgeschreckt. Mehr als zwei Stunden am Stück habe er lange nicht schlafen können.
Diesen Abend in Hamburg werde ich wahrscheinlich nie wieder vergessen.
Wieder ein paar Jahre darauf, im Spätsommer 2013, besuchte ich das erste Mal in meinem Leben die USA. Zu unserer Reise entlang der Ostküste gehörte auch ein mehrtägiger Besuch in New York. Ob es der Zufall wollte oder wir es bewusst so geplant hatten, weiß ich nicht mehr, aber letztendlich erlebten wir am 11. September 2013 die jährlichen Gedenkfeierlichkeiten zu dieser Katastrophe hautnah mit.
Unser Hotel befand sich im Financial District mitten in Manhatten. Von unserem Zimmerfenster aus konnten wir sowohl das neue World Trade Center als auch den Eingang zur Gedenkstätte des Attentats überblicken. Schon Tage vorher wurden die Feierlichkeiten vorbereitet. Die Polizeipräsenz rund um Ground Zero erhöhte sich spürbar. So wurden beispielsweise Straßensperren aus riesigen Betonklötzen mit der Aufschrift „NYPD“ aufgestellt.
Am 11. September machte sich schließlich eine merkwürdige Stimmung in der Stadt breit. Es schien, als würde die Metropole an diesem Tag leiser und andächtiger sein als sonst. Die Gedenkstätte war an diesem Tag für die Öffentlichkeit geschlossen, weil dort die Trauerfeier der Angehörigen stattfand, bei der unter anderem die Namen aller Todesopfer verlesen wurden. Die Zeremonie wurde live im amerikanischen Fernsehen übertragen, doch wir konnten das Geschehen auch durch das Hotelfenster hören.
So entschieden wir uns für einen Spaziergang rund um das ehemalige World Trade Center. In den Nebenstraßen des einstigen Katastrophengebietes hatten sich an diesem Tag viele Menschen versammelt. An einer Hauswand prangte ein riesiges, reliefartiges Bild, mit dem die New Yorker Feuerwehr ihrer gefallenen Kameraden gedachte. Auf einem größeren Platz eine Straße weiter hatten sich neben der Presse auch Demonstranten, weitere Feuerwehrleute, normale New Yorker sowie viele Touristen eingefunden. Ein Mann hielt ein Schild mit der Aufschrift „Satan lives in Israel“ hoch. Daneben stand ein Mann mit einem Feuerwehrhelm. Seine Weste zierte ein Aufnäher, auf dem ein Totenkopf mit Feuerwehrhelm sowie die Aufschrift „Ghosts of 911 – Inside Job“ abgebildet waren. Dazwischen wuselten Reporter und Kameramänner umher, die ununterbrochen Interviews führten, z.B. mit Teilnehmern der Trauerfeier und mit einem Mann im Captain-America-Kostüm. Es war eine faszinierende Szenerie. Trauer vermischt mit Politik, Patriotismus und Sensationsgier. Ganz viel Amerika auf diesem einen Platz in New York. Ich konnte mich kaum losreißen, doch schließlich setzten wir unsere Sightseeingtour fort.
Ein paar Tage blieben wir noch in New York. Mit mehr als 1000 Fotos kehrte ich schließlich nach Hause zurück. Ich habe die Freiheitsstatue, die Brooklyn Bridge und das Empire State Building aus jedem Winkel und von allen Seiten festgehalten. Doch die Eindrücke, die ich am 11. September 2013 sammeln durfte, werden immer etwas ganz besonderes bleiben.