Lügenpresse gibt es nicht (11:00)

Die Pressefreiheit in Deutschland muss aktuell die härteste Bewährungsprobe seit Ende des Zweiten Weltkriegs bestehen. Überall schießen Regierungskritiker aus der Erde, marschieren Pegida- und AfD-Nazis durch die Straßen und grölen „Lügenpresse“. Man kann der Presselandschaft in Deutschland vieles vorwerfen. Mangelnde Sorgfalt und zunehmende Sensationsgier zum Beispiel. Neben vielen guten Presseorganen gibt es hierzulande sicherlich auch ein paar schlechte und vor allem im Internet machen sich immer mehr Hetzer, Systemfeinde und Verschwörungstheoretiker breit. Aber so etwas wie eine Lügenpresse gibt es in Deutschland nicht. Diesen Vorwurf kann ich, Stefan Kübler, als ausgebildeter Redakteur und ehemaliger Journalist so nicht stehen lassen.

ARD, ZDF, Süddeutsche Zeitung, FAZ

Die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten in Deutschland betreiben tagtäglich einen unglaublichen Aufwand, um die dutzenden Rundfunkhäuser in den Bundesländern mit kompetenten Nachrichten zu versorgen. Tausende Reporter bei Zeitungen, Radio und Fernsehen schwärmen aus, nehmen Termine wahr und recherchieren und schreiben teilweise bis tief in die Nacht, vor allem bei Ereignissen von historischem Ausmaß wie dem 11. September 2001 oder der Atomkatastrophe von Fukushima 2011. In viele Artikel und Beiträge fließt wochenlange Arbeit, die als Ergebnis oft nur 100 Zeilen oder drei Minuten lang sind. Eine Vorgabe der Bundesregierung, wie Redakteure und Reporter zu arbeiten und berichten haben, gibt es dabei nicht. Redaktionskonferenzen, bei denen ein Vertreter der Regierung die Marschroute für die kommenden Wochen vorgibt, sind Bestandteile von Fantasy-Romanen. Sicher: Vor allem Zeitungen sind überfordert, weil momentan so viele Stellen gestrichen und Redaktionen zusammengelegt werden, wie noch nie. Nicht ohne Grund haben sich zuletzt NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung zu einem Rechercheverbund zusammengetan, um ihre Kräfte in Sachen Qualitätsjournalismus zu bündeln. Aber Lügenpresse ist das nicht.

RTL, N24, Bild-Zeitung

Boulevardmedien sind auch Presse. Vielleicht weniger gute Presse, aber auf keinen Fall Lügenpresse. Vor allem private Sendeanstalten wie RTL oder Prosieben-SAT1 Media müssen sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um gegen die etablierten öffentlich-rechtlichen Medien bestehen zu können. Dabei müssen sie mit weniger finanziellen Mitteln auskommen, denn von den GEZ-Gebühren bekommen sie keinen Cent. Und wer nicht mit Qualität punkten kann, der versucht es mit Schadenfreude und Unterhaltung. Ob ein Bericht über Speiseeis für Hunde oder den neuesten Fast-and-Furious-Film tatsächlich in die Abendnachrichten gehört, ist fraglich, ebenso, was die Bild-Zeitung mit dem Titel „Hitler hatte nur einen Hoden“ (1) bezwecken wollte. Schlechte Presse, dumme Presse, nervige Presse – sehr gerne, aber keine Lügenpresse.

Der Postillion, heute Show, Extra 3

Der Grad der Meinungs- und Pressefreiheit in einem Land wird an der Anzahl der Satiremedien gemessen und an dem Umgang mit ihnen. Deutschland hat dermaßen viele Satiremagazine als Zeitschrift, im Fernsehen und im Internet, dass der Vorwurf, die Medienlandschaft hierzulande sei von der Regierung gelenkt, an Absurdität nicht mehr zu überbieten ist. Postillion, heute-Show, Extra 3, Glasauge, Titanic und Eulenspiegel sind Satire. Wenn der Postillion schreibt, dass die Notrufnummer 110 bald kostenpflichtig wird oder dass Wissenschaftler vor einem Rätsel stehen, weil ein Baby komplett ohne Zähne geboren wurde (Brüller!), dann ist das witzig. Der dicke Typ, der ab und zu bei Extra 3 zu Gast ist und dummes Zeug redet, ist nicht der echte Sigmar Gabriel, sondern Max Giermann von Switch reloaded, der sich als Sigmar Gabriel verkleidet hat. Witzig! Verstanden? Darf Satire das? JA! Lügenpresse? NEIN?

Russia today, Chemtrails und zwielichtige Blogger

Den einzigen „Medien“, denen man so etwas wie Lügen vorwerfen könnte, sind diejenigen, die von den Regierungskritikern und Verschwörungstheoretikern meist selbst bevorzugt werden. Wer „Russia today“, einem von der russischen Regierung mitgegründeten (2), mittlerweile europaweit agierenden Fernsehsender, mehr Glauben schenkt, als ARD und ZDF, der darf sich nicht wundern, wenn er vom Großteil der Bevölkerung verachtet wird. Genauso verhält es sich auch mit Chemtrails-Jüngern und ähnlichen zwielichtigen Bloggern im Netz. Mit ernsthafter und gut recherchierter Presse hat das nichts zu tun. Jetzt mögen einige kommen und sagen: „Ja, aber Meinungsfreiheit gilt doch für alle! Warum dürfen die denn nicht sagen, was sie denken?“ Meinungsfreiheit gilt für alle, richtig. Aber Aussagen wie „Ausländer raus“ oder „Die nehmen uns unsere Jobs weg“ sind keine Meinung, sondern Hetze. Einstellungen wie „Das sind doch alles kriminelle Gauner“ sind Rassismus. Den Hetzern fehlt es an Differenzierung, Empathie, Moral und gesundem Menschenverstand. Und natürlich auch an Mut und Optimismus. Guter Journalismus muss und kann gar nicht immer objektiv sein. Jeder Redakteur, jeder Reporter vor Ort schildert Erlebnisse aus seiner Sicht. Deswegen schreibt er unter die Artikel seinen Namen. Guter Journalismus ist aber niemals widerlich, unsachlich und menschenverachtend.

Pressefreiheit in Polen, der Türkei, China, Nordkorea

Wie es Ländern ergeht, in denen die Pressefreiheit massiv eingeschränkt wird, zeigen zahlreiche Beispiele auf der ganzen Welt. Direkt nebenan in Polen darf die Regierung jetzt selbst die Programmchefs von Sendeanstalten ernennen. Viele Chefs und Reporter wurden entlassen, andere kündigten selbst. (3)

In der Türkei landen Journalisten im Gefängnis, wenn sie regierungskritisch berichten. (4) Viele werden angeklagt und müssen mit Haftstrafen und Berufsverbot rechnen. Sogar die deutschen Medien werden von Ankara aus beobachtet. Das beste Beispiel dürfte aktuell allen bekannt sein: Die Klage von Präsident Erdogan gegen Jan Böhmermann. In der Türkei wäre der ZDF-Moderator sofort verhaftet, angeklagt und mundtot gemacht worden. Dass das in Deutschland nicht passiert ist und sich die Bundesregierung trotz der Zustimmung zur juristischen Untersuchung des Falls klar für Satire und Kunstfreiheit ausgesprochen hat, zeigt, welchen Stellenwert die Pressefreiheit in Deutschland hat.

In China wird regelmäßig das Internet zensiert. Seiten, die der Regierung nicht passen, zuletzt Berichte über die „Panama Papers“ (5), landen auf dem Index und können von China aus nicht aufgerufen werden. Auch Nordkorea zieht regelmäßig eine Nachrichten-Show ab. Bei Raketenstarts berichten die Staatsmedien einstimmig von deren friedlicher Absicht. In anderen Beiträgen, zum Beispiel zum Tod von Kim Jong Il, sind Menschen zu sehen, die wie auf Befehl trauern (6). Von solch unwirklichen Zuständen ist in Deutschland nicht der Hauch zu spüren. Wer behauptet, dass die deutsche Presse von der Regierung gelenkt wird, der wird von jedem Türken, Polen, Chinesen und Nordkoreaner schallend ausgelacht.

Bundespressekonferenz, Deutschlandtrend und Politbarometer

Würde die Regierung die deutsche Presselandschaft lenken, gäbe es in Berlin die Bundespressekonferenz nicht. Was ist das? Bei der Bundespressekonferenz lädt nicht etwa die Regierung die Journalisten ein, sondern umgekehrt. Die Presse bestimmt den Ablauf und die Gäste, was den Vorteil hat, dass auch viele kritische Fragen gestellt werden. Deswegen sehen die Politiker an den Mikros meist so unentspannt aus. Die Bundespressekonferenz ist weltweit nahezu einmalig und der beste Beleg für eine freie Presse in Deutschland.

Würde die Regierung die Berichterstattung in Deutschland mitbestimmen, gäbe es in der ARD keinen Deutschlandtrend und im ZDF kein Politbarometer. Was ist das? Deutschlandtrend und Politbarometer sind Umfrageformate, bei denen die deutschen Bürger im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zur aktuellen Politik befragt werden. Neben ihrer Meinung zu verschiedenen Themen vergeben die Befragten dabei auch Noten für Politiker. Eine Regierung, die Einfluss auf die Presse nimmt, würde sicherlich kein Kabinettsmitglied mit schlechten Umfragewerten in den Nachrichten zulassen.

Wenn die Bundesregierung Einfluss auf die Arbeit von Journalisten nehmen würde, wären Nachrichten über falsche Doktortitel bei Politikern niemals veröffentlicht worden. Annette Schavan und Karl-Theodor zu Guttenberg wären bis zur letzten Instanz von der Regierung geschützt worden, hätten ihren Hut nicht nehmen müssen und säßen heute wahrscheinlich immer noch im Kabinett. Auch die Teppichaffäre von Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (7) wäre niemals Thema gewesen, ebenso die exakten Gehaltszahlen und Pensionsansprüche von Bundestagsmitgliedern.

Fazit

Die übrige Arbeit der Bundesregierung kann an vielen Stellen gerne kritisch betrachtet werden. Beispielsweise halte ich die Einflussnahme der Wirtschaft auf die Gesetzgebung in den meisten Fällen für fragwürdig. Auf die Arbeit der Presseorgane in Deutschland nehmen Angela Merkel und ihre Minister aber mit Sicherheit keinen ernst gemeinten Einfluss. Während der vergangenen Jahre, in denen ich unter anderem für den Norddeutschen Rundfunk in Hannover und Lübeck, Radio Schleswig-Holstein (R.SH), Radio Hamburg sowie die Cellesche Zeitung tätig war, habe ich Anweisungen nur von meinen Vorgesetzten bekommen. Und keiner von denen hatte jemals eine Redaktionskonferenz mit der Kanzlerin. Garantiert.

 

Quellen:

  1. Bild-Zeitung, 19. Dezember 2015, Seite 1
  2. http://www.spiegel.de/politik/ausland/russia-today-abby-martin-kritisiert-russlands-einmarsch-a-956832.html (zuletzt besucht am 17. April 2016)
  3. http://www.fr-online.de/politik/gesetzesaenderung-in-polen-fernsehmacher-treten-in-polen-zurueck,1472596,33048530.html (zuletzt besucht am 17. April 2016)
  4. http://www.spiegel.de/politik/ausland/can-duendar-und-erdem-guel-prozess-gegen-tuerkische-journalisten-beginnt-a-1084149.html (zuletzt besucht am 17. April 2016)
  5. http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/panama-papers/zensur-china-blockiert-die-panama-papers-14161170.html (zuletzt besucht am 17. April 2016)
  6. http://www.spiegel.de/politik/ausland/trauer-um-kim-jong-il-das-regime-laesst-wehklagen-a-804593.html (zuletzt besucht am 17. April 2016)
  7. http://www.tagesspiegel.de/politik/am-zoll-vorbei-minister-niebel-kauft-teppich-in-afghanistan-und-vergisst-zu-verzollen/6724118.html (zuletzt besucht am 17. April 2016)

4 Gedanken zu „Lügenpresse gibt es nicht (11:00)

    1. Das ist genau das Problem. In vielen Fällen geschieht das wahrscheinlich noch nicht einmal absichtlich. Viele wissen wahrscheinlich gar nicht, was hinter solchen Berichten und „Medienanstalten“ steckt. Und die dann für bare Münze zu nehmen, halte ich für sehr gefährlich. Danke dir für deine Rückmeldung.

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      1. Gefährlich ist das richtige Wort.
        Leider ist das auch ein sehr unbelehrbares Klientel… Wenn man was sagt, ist man halt gehirngewaschen von linksgrünversiffter™ Staatspropaganda™ :(

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