Der neue Stefan fühlt sich alt (8:45)

Endlich frei, dachte ich, während ich eines Tages vor vielen Jahren durstig durch die Straßen meiner Stadt schlenderte. Frei hatte ich freilich nur den Nachmittag. Die Schule war aus und ich genoss es, ohne ein Ziel durch die Fußgängerzone zu bummeln, vorbei an Schaufenstern, Straßenmusikern und Reisegruppen.

Ich war gerade 16 und es war Sommer. Der Tag, der mein bisheriges Leben für immer verändern sollte.

Das Wetter bescherte meiner Stadt und ihren Menschen fast 30 Grad und schon nach wenigen Minuten in der Sonne trat der Schweiß aus allen Poren. Ich überquerte den Marktplatz und erreichte einen kleinen Kiosk. In Erwartung einer kühlen Erfrischung trat ich ein, schnappte mir eine Limonade aus dem Fach hinter der Glastür und wandte mich der Kasse zu.

Ich gab dem Kassierer das Geld passend und war bereits auf dem Weg zurück nach draußen, da hörte ich:

„Möchten Sie eine Tüte, oder geht’s so mit?“

Ich erstarrte in der Bewegung. Hat der wirklich gerade „Sie“ gesagt? Sehe ich schon so alt aus?, dachte ich. Das war mir ja noch nie passiert.

„Geht schon“, murmelte ich und verließ eilig den Laden. Irgendwie fühlte ich mich jetzt alt.

Ein paar Jahre später wurde es noch schlimmer. Ich war jetzt 20, hatte soeben den Grundwehrdienst beendet und seit fast einem Jahr keinen Sport in meinem Verein gemacht. Im Herbst war Training in der Halle angesagt und das begann wie immer mit Warmlaufen. Ich kam nur schwer in Gang. Bei der Bundeswehr hatte ich meistens im Büro gesessen und dabei ein paar Kilo zugenommen. Jetzt zwickte es überall und in den ersten Minuten in der Halle schlurfte ich mehr, als dass ich lief.

Als ich zum dritten Mal an meinem Trainer vorbei kam, konnte der sich einen Kommentar nicht verkneifen.

„Du läufst ja wie ein alter Mann“, rief er.

Ich stutzte. Meint der mich?, dachte ich und blickte mich um. Offensichtlich, denn die anderen drehten kraftvoll ihre Runden in der Halle.

Innerlich geknickt gab ich mir einen Ruck. Mühsam nahm ich Haltung an und versuchte sportlich auszusehen. Wie ein alter Mann, wiederholte ich im Kopf die Worte meines Trainers.

Dabei musste ich an die aus meiner Sicht wirklich alten Männer in meinem Verein denken. Die Altherren, denen ich regelmäßig in der Umkleide begegnete. Die immer noch die gleichen alten Cordhosen wie vor 30 Jahren trugen. Die sich beim Umziehen nur über Politik und ihre Krankheiten unterhielten. Und die beim Duschen ihr Duschgel über ihre faltigen Hinterteile und grauen Brusthaare verteilten. Natürlich würde auch ich irgendwann einmal alt werden. Aber doch nicht jetzt. Mit 20.

Für die letzte Aufwärmrunde drückte ich meinen Rücken durch und sprintete los. Nach wenigen Metern musste ich keuchend anhalten.

Diese beiden Ereignisse verfolgten mich lange. An das „Sie“ hatte ich mich natürlich bald gewöhnt, doch die Sache mit dem alten Mann ging mir immer wieder durch den Kopf.

Was bedeutete denn „alt“? Ist es das Alter? Die körperliche Verfassung? Oder ist das alles reine Einstellungssache?

In meiner Mittagspause, wenn ich, wie damals, gedankenverloren durch meine Stadt schlendere, beobachte ich die anderen Leute. Wer von denen ist denn alt?

In meiner Stadt versammeln sich stets viele Rentner. Die einen leben hier, die anderen machen Urlaub und schauen sich die alten Fachwerkhäuser an.

Egal, ob Einheimische oder Gäste, mittags treibt das Verlangen nach Kaffee und Kuchen sie alle in die Bäckereien und Coffee-Shops. Ältere Ehepaare haben bei ihrer Vorgehensweise für die Snackbeschaffung ein bemerkenswertes Teamwork entwickelt. Ich habe das in meinem Lieblingscafé schon oft beobachtet. Der Laden ist nicht besonders groß, sodass sich der Mann nach dem Eintreten oft an den letzten freien Tisch setzt, während die Frau ihren Platz in der Warteschlange einnimmt. Von dort aus hält sie ständigen Kontakt zu ihrem Mann und diskutiert die Bestellung lautstark durch den Laden. Die Fragen der Gattin und ihr Vortrag über den Inhalt der Kuchentheke werden seinerseits mit zustimmendem oder ablehnendem Grummeln kommentiert. Am Ende wissen alle anderen Gäste, dass sie ein Stück Käse-Sahne-Torte mit einem Milchkaffee und er etwas Erdbeerkuchen und einen Pott Kaffee zu sich nehmen wird. In der Steinzeit hat sich der Mann noch um die Essensbeschaffung und die Frau um den Lagerplatz gekümmert. Heute ist das anders. Und beide scheinen mit dieser Arbeitsteilung äußerst zufrieden zu sein. Er lässt sich gerne bedienen und sie hat das Gefühl, sich weiterhin um die Familie zu kümmern, auch wenn die Kinder schon lange aus dem Haus sind.

Bei der Arbeit sind mir die Eigenheiten des Älterwerdens auch öfter schon aufgefallen, also bei den anderen. Ich hatte vor langer Zeit mal einen Kollegen, so Mitte 50, der schien regelmäßig sicherstellen zu wollen, dass seine Anwesenheit auch allen anderen bewusst war. Kehrte er zum Beispiel nach der Mittagspause an seinen Schreibtisch zurück, flog oft genug die Bürotür geräuschvoll auf und der Kollege betrat mit schelmischem Blick den Raum.

„Ach, meine Lieblingskollegen“, tönte er dann, während er eine Tasse Kaffee vor sich her trug. „Schön, dass ihr alle noch da seid. Und das um 15 Uhr.“

Kann man machen, den Spruch, doch er machte ihn gefühlt an jedem zweiten Tag. Man musste schon fast davon ausgehen, dass etwas nicht stimmte oder dass er krank war, wenn er diesen Spruch mehrere Tage nacheinander nicht machte.

Nachdem er ächzend auf seinem Schreibtischstuhl Platz genommen, einen genüsslichen Schluck aus seiner Kaffeetasse geschlürft und diese dann neben der Tastatur abgestellt hatte, ging die Show weiter.

„Ja, ja. Dann wollen wir mal wieder“, sagte er, während er mit einer Bewegung der Computermaus seinen Rechner aus dem Ruhezustand holte. Danach folgten Sätze wie „Ach, guck mal an“ oder „Auch Blumenerde kann ablaufen“ oder „Hallo Maus, machst du noch mit?“, mit denen er alles kommentierte, was er auf dem Bildschirm sah, egal ob Werbung im Internet oder Nachrichten oder lustige E-Mails. Diese Phase des Wiedereintritts in den Arbeitsmodus nach der Mittagspause dauerte in der Regel wenige Minuten. Meine Kollegen und ich hatten uns bereits daran gewöhnt und ließen uns nicht dadurch stören, vor allem, weil der Kollege auch keine Erwiderung auf seinen Wort-Ausfluss erwartete.

Sich oft wiederholen, stets die gleichen alten Witze machen und nur eine Handvoll Sprüche parat haben, die in sicherer Regelmäßigkeit immer wieder abgefeuert werden – das waren Erscheinungen des Älterwerdens, die ich in den vergangenen Jahren immer wieder an meinen Kollegen beobachtet hatte.

Fasziniert hatte ich außerdem immer wieder registriert, dass der Kollege in regelmäßigen Abständen mit kurzen Lebenszeichen auf sich aufmerksam machte. Minuten des konzentrierten Arbeitens wurden immer wieder durch merkwürdige Laute unterbrochen. Plötzlich schien sich bei dem Kollegen ein inneres Alarmsystem zu aktivieren und er sagte Dinge wie „Oh ja, das sieht gut aus“ während er seine Arbeit betrachtete. Oder er fing an, Lieder zu summen. „Alle Vögel sind schon da“ oder „Ein Männlein steht im Walde“. Manchmal sang er auch leise „La La La“ auf die Melodie von „Mary had a little lamb“.

Vielleicht ist es tief im Instinkt der Menschen verwurzelt, sich ab einem gewissen Alter regelmäßig bei ihrer Umwelt bemerkbar zu machen, um zu zeigen, dass sie noch lebten. Die innere Uhr schien dann einen Schalter umzulegen und ein Signal ans Sprachzentrum zu senden. Was dann vorne dabei herauskam, war unwichtig. Hauptsache, die anderen wussten Bescheid, dass sich ihr Mitmensch noch in einem intakten Zustand befand.

Aber was ist schlimmer, als ein Kollege, der regelmäßig zusammenhanglose Wortladungen verlor? Noch zwei oder drei andere Kollegen, die das gleiche taten. Ich entdeckte über die Jahre immer mehr Menschen um mich herum, die undefinierbare Eigenarten entwickelten. Einer von ihnen, ebenfalls Mitte 50, blickte zum Beispiel fast jeden Abend auf die Uhr an der Wand und rief: „Oh nein, so spät schon, ich muss nach Hause, ich habe Feierabend!“ Manchmal trieb er es auf die Spitze, wenn er im Hinausgehen sagte: „Haltet durch Leute. Ich bin ja morgen wieder da. Vielleicht.“ Und solange immer noch wenigstens einer darüber lachte, würde er damit wohl auch nicht aufhören.

Manchmal überlegte ich, ob ich mittlerweile auch solche Eigenarten entwickelt hatte. Und wenn nicht, wann es denn bei mir damit losgehen würde. Denn eines schien sicher: Es war unausweichlich, dass man sich ab Mitte 50 zu einem merkwürdigen Typen entwickeln würde.

Sicher, ich bin kein zurückhaltender Mensch und habe auch oft einen lockeren Spruch auf Lager. Doch die waren ja alle wirklich witzig. Irgendjemand lachte immer über meine Witze. Und wenn nicht, war es auch nicht schlimm. Dann machte ich ihn in ein paar Tagen nochmal. Zur Not redete ich dann ein bisschen lauter, damit ihn auch alle mitkriegten…

Hm.

Konnte es sein, dass ich mich auf dem besten Weg dahin befinde, auch einer von diesen brabbelnden alten Säcken zu werden? Ich schob den Gedanken beiseite und machte mich wieder an die Arbeit.

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