Der Nebel zieht über die Leiche (2:30)

Ein grauer Novembertag mit Schmuddelwetter. Kühl. Nieselregen. Die perfekte Atmosphäre für die Beerdigung der Omi. Der Friedhof. Daneben die Kapelle aus dem Jahr 1408. Vor dem Altar steht der offene Sarg. Der Nebel zieht durch das Fenster über die Leiche. Es herrscht Stille. Nicht nur in der braunen Holzkiste, sondern im gesamten Gotteshaus. Der Mann im schwarzen Anzug beginnt mit der Trauerrede. Alle heben die Köpfe und lauschen seinen Worten.

Es ist erst wenige Tage her, seitdem die Omi die Welt verlassen hat. Der Schock der Todesnachricht sitzt allen noch in den Knochen. Die kurze Zeit hat den Angehörigen noch keine Gelegenheit gelassen, die Trauer zu verarbeiten. Es war ein Unfall. Mit dem Fahrrad. Die Omi war sofort tot. Der Sohn wurde gebeten, sie im Krankenhaus zu identifizieren. Da lag sie dann. Unter einem grünen Tuch. Nachdem sie in Autopsieraum vier untersucht worden war.

Kurz darauf hatte der Sohn zum ersten Mal den Mann im schwarzen Anzug getroffen. Ein freier Prediger sollte es sein, denn die Omi hatte von der Kirche noch nie etwas gehalten.

Und jetzt sind alle hier in der Kapelle versammelt und lauschen den andächtigen Worten. Alle sind gekommen. Der Hometrainer, den die Omi sich trotz ihres hohen Alters noch immer nach Hause bestellt hatte. Dann dieser komische Überlebenstyp, der nebenan wohnt und hin und wieder seltsame Gäste empfängt. Und auch alle Zehn-Uhr-Leute, mit denen die Omi einmal in der Woche Karten gespielt hatte.

Der Mann im schwarzen Anzug hält eine bewegende Rede über das ebenso bewegte Leben der Omi. Wie sie 1922 geboren wurde. Wie sie als Teenager mit der Familie in die USA auswanderte. Und wie sie in den 50er Jahren mit der Ballade von der flexiblen Kugel einen Welthit landete. Ja, die Omi war schon eine tolle Frau, die viel zu früh im Kabinett des Todes gelandet war.

Nach der Trauerrede wird der Omi das letzte Geleit gegeben. Langsam ziehen die Angehörigen hinter den Sargträgern hinaus auf den Friedhof. Um das Loch in der Erde versammeln sich alle noch einmal. Der Mann im schwarzen Anzug trägt erneut ein paar tröstende Worte vor. Der Sohn hört nicht mehr zu, denn der Opi hat sich ihm zugewandt und schaut ihn mit traurigen Augen an.

„Wir hatten eine gute Ehe“, sagt er leise. „Nur noch ein, zwei Jahre mehr mit ihr, das wäre doch eine faire Verlängerung gewesen, oder?“

Der Opi senkt den Kopf, während die Omi langsam in ihre letzte Ruhestätte hinab gelassen wird. Der Nebel zieht über die Leiche. Die perfekte Atmosphäre.

 

Diese Geschichte ist im Rahmen eines Wettbewerbs des Heyne Verlags entstanden und enthält 13 Titel von Kurzgeschichten von Stephen King.

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