Martha und die Hufeisenlegende (Teil 2 von 3)

Martha und die Hufeisenlegende (Teil 1)

Kurz bevor Mutter und Tochter die Schmiede erreichten, flog die Eingangstür ihres Hauses auf. Der Herold, der eben noch auf dem Marktplatz gestanden hatte, stürmte heraus und eilte wortlos an ihnen vorbei. Irritiert betraten sie die Werkstatt. „Was wollte der denn hier?“, fragte die Mutter den Vater.

„Habt ihr es noch nicht gehört?“, antwortete er. „Schon nächste Woche will der Herzog ein Turnier abhalten. Und jetzt fällt ihm ein, dass er noch Hufeisen benötigt. Einen ganzen Karren. Und die soll ich ihm liefern. Ich muss sofort beginnen, damit ich es schaffe.“

Der Schmied begab sich wieder an sein Feuer und war den Rest des Tages beschäftigt. Martha half ihrer Mutter mit den Einkäufen, saß danach in der Küche, schaute beim Kochen zu und plapperte den ganzen Tag nur noch von den Pferden, den Rüstungen und den Damen in ihren schicken Gewändern.

In den kommenden Tagen war die Schmiede von morgens bis abends von durchdringenden, kräftigen Hammerschlägen erfüllt. Marthas Vater konzentrierte sich voll und ganz auf den Auftrag des Herzogs. Von seinem Feuer ließ er nur ab, um mit seiner Familie zu essen. Er stand noch früher auf als sonst und arbeitete bis weit nach Sonnenuntergang. Wenn Martha ihn morgens nach dem Aufstehen von der Treppe aus anlächelte, lachte er zwar zurück, aber er kam nicht zu ihr, um sie zu begrüßen. Das Mädchen ging dann immer gleich in die Küche und half der Mutter mit dem Frühstücksbrei.

Eines Morgens war der Lärm verschwunden. Martha wurde an diesem Tag ausnahmsweise nicht vom Hämmern geweckt, sondern von ihrer Mutter, die ins Zimmer kam.

„Martha, sei ein gutes Kind und hilf deinem Vater“, sagte sie.

Die Achtjährige krabbelte aus dem Bett und ging hinunter in die Werkstatt. In den vergangenen Tagen hatte ihr Vater in der einen Ecke der Schmiede einen großen Stapel Hufeisen errichtet. Die unermüdliche Arbeit hatte sich offenbar ausgezahlt und er war rechtzeitig einen Tag vor dem großen Turnier fertig geworden.

Der kräftige Mann war erneut seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen, um die metallenen Beschläge für die Turnierpferde zu verladen. Das große Tor zum Hof stand weit offen. Draußen hatte der Schmied einen Handkarren postiert, auf den er die Hufeisen verlud. Mit seinen tellergroßen Pranken schnappte er sich gleich ein ganzes Dutzend Eisen auf einmal und stapelte sie auf dem Wagen ordentlich aufeinander. Martha tapste zum Haufen fertiger Hufeisen, nahm eins in die Hand und brachte es hinaus zu ihrem Vater. Als der Schmied das Mädchen erblickte, musste er lächeln. „Ach, meine Kleine! Das ist aber schön, dass du mir hilfst! So macht das doch gleich viel mehr Spaß!“

Eine große Hilfe war Martha ihrem Vater allerdings nicht. Die Menge an Hufeisen, die das Mädchen verlud, hätte der Schmied locker auf einmal tragen können. Doch der gutmütige Handwerker freute sich über die Gesellschaft seiner Tochter und tat bald so, als wäre sie viel stärker als er.

Nachdem alle Hufeisen feinsäuberlich auf dem Karren verladen waren, setzten sich die beiden zur Mutter an den Küchentisch und löffelten ihr Frühstück in sich hinein.

Kurz darauf klopfte es energisch an der Eingangstür. Der Schmied eilte nach vorne und öffnete.

„Ist alles vorbereitet?“, hörte Martha einen Mann fragen.

„Ja, mein Herr“, antwortete ihr Vater. „Hier entlang.“

Die beiden durchquerten die Werkstatt und verließen das Haus durch das Hoftor an der Seite. Kurz darauf setzte sich der Schmied wieder an den Tisch.

„Wer war denn das?“, fragte Martha.

„Das war einer aus dem Schloss“, antwortete ihr Vater. „Er hat die Hufeisen für den Herzog abgeholt.“

„Meine auch?“

„Ja, auch die, die du getragen hast. Die fand er besonders schön.“

Martha grinste. „So ein Unfug! Die hast du doch gemacht. Ich hab die doch nur kurz getragen.“

Der Schmied zerstrubbelte seiner Tochter lachend die blonden Haare. „Dir kann man wohl nichts mehr vormachen, was? Wirst wohl bald erwachsen!“

„Ach, lieber nicht. Dann muss ich bestimmt noch mehr tragen.“

Lachend stand der Vater auf und ging in die Schmiedeecke, um die Spuren seiner Arbeit zu beseitigen. Er fegte Asche und Schlacke zusammen, die sich rund um das Schmiedefeuer angesammelt hatten, tauschte das Wasser im Kühlbottich aus, befreite den Amboss von Schmutz und legte alle Hämmer, Zangen, Schürhaken und reihenweise andere Werkzeuge, von denen Martha keinen Schimmer hatte, wozu sie gut waren, an ihren Platz.

Den nächsten Tag konnte das Mädchen kaum erwarten. Nach dem Aufstehen lief sie hinunter an den Küchentisch und bis zum Ende des Frühstücks plapperte sie ohne Unterlass von Pferden, Fahnen und Liebesgeschichten zwischen Rittern und edlen Damen. Ihre Eltern saßen ihr schmunzelnd gegenüber und ihre Mutter musste sie mehrmals ermahnen, ihren Brei aufzuessen, bevor er kalt würde.

Nachdem sie ihre Schüssel endlich geleert hatte, fuhr sich Martha mit dem Handrücken über den Mund und atmete tief durch. „So, gehen wir jetzt los?“

Die Kleine wäre am liebsten sofort aufgesprungen und zur Stekkelbahn gerannt, doch ihre Mutter erklärte ihr, dass es noch etwas zu früh sei und jetzt bestimmt noch keine Pferde und schon gar keine edlen Damen zu sehen seien. So musste Martha die Zeit mit kleinen Arbeiten im Haus überbrücken. Sie ging ihrer Mutter bei der Reinigung der Löffel, der Schüsseln und des Kessels zur Hand, doch sie war so aufgeregt, dass sie sich, wie tags zuvor bei den Hufeisen, nicht wirklich als nützlich erwies.

Als die Küche aufgeräumt war, machten sich die Schmieds auf den Weg zum Ritterturnier. Draußen war es nicht mehr so frostig wie am Tag ihres Marktbesuchs, doch der Schnee hatte sich jetzt in grauen Matsch verwandelt, sodass Martha immer noch aufpassen musste, dass sie auf der Straße nicht ausrutschte.

Auch heute kam es ihr so vor, als wäre die halbe Stadt auf den Beinen. Sie hatten kaum das Haus verlassen, da befanden sie sich auch schon mitten in einem dichten Menschenstrom, der Richtung Stekkelbahn drängte.

Von ihrem Haus aus mussten sie nicht weit laufen. Es waren nur ein paar Straßenecken, vorbei an Fachwerkhäusern und öffentlichen Brunnen. Je näher sie dem Turnierplatz mitten in der Stadt kamen, desto dichter wurde das Gedränge. Der Schmied ging voraus und bahnte seiner Frau sowie der kleinen Martha den Weg. Aufgrund seiner Körpergröße pflügte der Vater regelrecht durch die Menschenmasse und schuf auf diese Weise einen komfortablen Weg für Mutter und Tochter. Die Drei gingen links an der Stekkelbahn vorbei Richtung Schloss. Nach ein paar Metern war das Gedränge nicht mehr so dicht, sodass die Familie einen guten Platz in der Nähe der Absperrung fand.

Der gesamte Kampfplatz war rundherum mit hölzernen Schranken abgesperrt. Auf der einen Seite durften die Bürger stehen und zuschauen, wie auf der anderen Seite die Ritter auf Pferden und mit Lanzen in der Hand gegeneinander antraten. Gegenüber der Stelle, an der Martha und ihre Eltern standen, war eine Tribüne aus Holz errichtet worden, auf der nach und nach die Damen vom Celler Hof Platz nahmen. Von Rittern und Pferden war weit und breit nichts zu sehen, also beobachtete das Mädchen die hübschen Frauen, die betont vornehm eine nach der anderen Platz nahmen und bedächtig in die Runde schauten. Martha kannte keine einzige von ihnen, doch sie war fasziniert von den Hofdamen, die aus einer anderen Welt zu kommen schienen. Alle trugen lange und teure Gewänder, die bei dem kalten Wetter von ebenso langen Mänteln mit kostbarem Pelzbesatz sowie mit Fell gefütterten Kopfbedeckungen ergänzt wurden.

Lange musste Martha nicht warten, bis sie die mutigen Männer auf ihren Schlachtrössern zu Gesicht bekam. Ein Herold betrat die Kampfbahn und rief laut die Begrüßung und die bevorstehenden Wettkämpfe aus. Von einem Pergament las er die Namen und Herkunftshöfe der teilnehmenden Ritter ab. Von einigen Orten und Herrschaftshäusern hatte Martha noch nie etwas gehört. Außer Celle hatte sie mit ihren acht Jahren allerdings auch noch nichts von der Welt gesehen. Immerhin hatte sie von Lüneburg und Hannover schon mal gehört. Und wo Braunschweig ungefähr lag, hatte ihr der Vater auch schon mal versucht zu erklären.

Sobald sie aufgerufen wurden, nahmen die Ritter auf ihren Pferden mitten auf dem Platz Aufstellung. Die Tiere waren geharnischt, damit sie sich nicht verletzten. Nachdem alle Herren vorgestellt waren, gab der Herold die Duelle bekannt. Welche beiden Ritter gegeneinander antraten, wurde ausgelost. Die ersten beiden Kontrahenten ritten jeweils an ein Ende der Stekkelbahn, während die übrigen Reiter am Rand auf ihren Kampf warteten.

In der Menschenmenge kehrte langsam Ruhe ein. Alle warteten gespannt auf das erste Duell. Würde es ein langer oder ein kurzer Kampf werden? Welcher Ritter würde als erstes zu Boden gehen? Wer da wirklich gegeneinander antrat und wer gewann, war den meisten Zuschauern eigentlich egal. Hinter den Visieren konnten sie sowieso niemanden erkennen. Aber die Bürger fieberten bei jedem Turnier mit und freuten sich über dieses große Ereignis in ihrer kleinen Stadt.

 Martha und die Hufeisenlegende (Teil 3)