Neulich bei der Lügenpresse (6:00)

Es ist ein ganz normaler Vormittag im Leben des Ingo M. Petent. Als der Zeitungsredakteur das Verlagsgebäude betritt, nickt er den Damen am Empfang freundlich zu und eilt die Stufen in den zweiten Stock hinauf. Im Treppenhaus riecht es nach Keller, in seinem Redaktionsbüro nach Kaffee und Blumenerde.

Ingo setzt sich an seinen Schreibtisch, fährt den Rechner hoch und checkt die Mails. Er rückt gerade die Anstecknadel in schwarz-rot-gold an seinem Hemdkragen zurecht, als er die Nachricht von seinem Chefredakteur liest.

„Die Redaktionskonferenz verschiebt sich um ca. 15 Minuten. Das Fax von Frau Merkel ist noch nicht da“, steht dort geschrieben.

Ingo nutzt die gewonnenen Minuten und geht die Leserbriefe durch. Hass, soweit das Auge reicht. Die Briefe auf Papier landen im Aktenvernichter, die Mails werden gelöscht. Im Blatt landen später sowieso nur von Praktikanten verfasste Leserbriefe.

Die Konferenz beginnt wie angekündigt eine Viertelstunde später. Wie immer sind fast alle festangestellten Mitarbeiter anwesend, dazu kommen ein paar Praktikanten und der Fotograf.

Der Chefredakteur betritt den Raum, geht mit großen Schritten und wehendem Jackett zu seinem Stuhl und bleibt am Kopfende des Konferenztisches unter dem Porträt von Angela Merkel stehen. Alle anderen erheben sich und singen die Nationalhymne. Als die Kollegen wieder Platz nehmen, wird hier und da eine Träne der Rührung weggewischt. Dann beginnt das tägliche Programm.

„Hier sind unsere Anweisungen“, sagt der Chef, während er ein paar bedruckte DIN-A4-Blätter in die Luft hält. „Das Wichtigste vorweg: Böhmermann und sein Schmähgedicht über Erdogan haben wir natürlich auf dem Schirm. Die Berichterstattung soll so ablaufen wie in der vergangenen Woche. Wir bleiben bei der Linie, dass Böhmi die Sache selbst zu verantworten hat, das ZDF und viele Fans und Kollegen sich aber hinter ihn stellen. Hier und da kommt ein Experte zu Wort, das war‘s. Dass die ganze Sache eine Idee der Bundesregierung ist, dürfen nur wir wissen. In Wahrheit soll die Türkei damit provoziert werden, damit wir einen Grund mehr haben, sie nicht in die EU zu lassen.“

Zustimmendes Nicken macht die Runde. Die Praktikanten machen sich eifrig Notizen.

Der Chef fährt fort: „Kowalski, prüfen sie doch bitte mal, ob Hitler nicht auch mal ein Gedicht geschrieben hat. Oder sowas Ähnliches. Mussolini oder Mao Zedong tun es zur Not auch. Wäre doch gelacht, wenn wir da nicht auch so eine schmissige Schlagzeile wie die Bild-Zeitung hinbekämen.“

Kowalski eilt aus dem Raum und ist den Rest des Tages mit googeln beschäftigt.

„Schmidtke“, spricht der Chef den nächsten Kollegen an, „Sie möchte ich um einen Anruf beim Seibert in Berlin bitten. Wir brauchen mal wieder einen Politiker mit einem kleinen Skandal, um der Öffentlichkeit vorzumachen, dass wir nicht von der Regierung gelenkt werden. Die Doktorarbeiten haben wir alle durch. Ich würde sagen, wir knüpfen uns mal die Freischwimmerabzeichen vor. Da hat doch bestimmt auch mal einer geschummelt. Fragen sie doch mal, ob sich da jemand wieder freiwillig meldet. Vielleicht der Minister für Kaffeefilter und Radiergummis. Den kennt eh keiner. Wenn die ganze Sache durch ist, bieten wir ihm ein geheucheltes Exklusivinterview an. Wie immer.“

Schmidtke nickt. Die Sache geht klar.

„Was gibt es denn Neues in der Verschwörungsredaktion?“

Kollege Petermann ergreift das Wort: „Wir dachten, wir erfinden mal etwas über den Schadstoffausstoß bei Elektro-Fahrrädern, um von dem Abgasskandal bei VW abzulenken. Kann ja nicht sein, dass dadurch unsere schöne, deutsche Autoindustrie kaputt geht.“

„Sehe ich genauso. Schön mitgedacht, Petermann“, lobt der Chef. „Die deutsche Wirtschaft muss um jeden Preis geschützt werden! Was hat das Lokale?“

Eine brünette Brillenträgerin rückt ihren Notizblock zurecht und sagt: „Wir hatten heute Nacht einen Überfall hinterm Bahnhof und eine versuchte Massenvergewaltigung auf dem Parkplatz vorm ,Trinkerstübchen‘. Beide Male waren Migranten beteiligt. Darüber schreiben wir natürlich nicht. Die Berichte sind abgeheftet und eingeschlossen. Die Polizeimeldungen, die wir drucken dürfen, kommen wohl gegen 11 Uhr. Diesmal geht’s um den Tag der offenen Tür bei der Polizeistation mit einer Hüpfburg für die Kleinen und um das erste Hybridfahrzeug im Einsatz.“

„Sehr schön“, findet der Chef, „Natur und Kinder kommen immer gut. Gibt’s was vom Sport?“

„Nichts, worüber wir berichten dürfen“, lautet die Antwort vom grauhaarigen Kollegen mit Bierbauch. „Am Wochenende ist in der Bezirksliga ein Fußballspiel abgebrochen worden, weil sich beide Mannschaften, eine deutsche und eine türkische, geprügelt haben. Türkei geht ja gerade nicht so gut, deswegen schreiben wir, dass der Schiedsrichter wegen einer Blase am Fuß nicht mehr weitermachen konnte und das Spiel als Unentschieden gewertet wird. Dann habe ich noch gute Neuigkeiten zur Fußball-EM: Die vollständigen Ergebnisse der Spiele mit allen Torschützen und gelben Karten und so bekommen wir schon nächste Woche. Da hat die Uefa mal richtig Gas gegeben. So können wir alle Artikel schon vor dem Eröffnungsspiel fertigschreiben und müssen dann nicht bis abends hier in der scheiß Redaktion rumhängen.“

„Finde ich gut, machen wir so“, lautet die knappe Rückmeldung vom Chef. „Was noch? Lottozahlen? Wetter? Bürgermeisterwahl?“

„Alles bereits vorbereitet und geschrieben“, so die einstimmige Antwort der zuständigen Ressortleiter.

Der Chef lehnt sich zufrieden zurück und blickt in die Runde.

„So gefällt mir das! Da mache ich gleich mal eine schöne Bestands- und Gefolgsmeldung für Kanzlerin Merkel fertig.“

Bei der Erwähnung des Namens nehmen einige Kollegen im Sitzen Haltung an und grüßen militärisch.

Kurz bevor der Chefredakteur die Konferenz beenden kann, schnellt der Arm eines Praktikanten aus der letzten Reihe empor. Der Nachwuchskollege ist noch so grün hinter den Ohren, dass ihm der Schmodder der Jungfräulichkeit in Sturzbächen bis in den Nacken rinnt.

„Was ist denn noch?“, grunzt der Chef.

„Wie läuft denn das eigentlich mit dem Horoskop?“, fragt der Redakti-Prakti. „Wer denkt sich diesen Schwachsinn eigentlich aus? Kann ich vielleicht mal eines schreiben?“

Stille.

Der Chefredakteur läuft rot an und starrt den Jüngling mit hasserfüllten Augen an.

„Schwachsinn?! Haben sie gerade tatsächlich SCHWACHSINN gesagt?!“, fährt er aus der Haut. „Horoskope sind hochwissenschaftliche Angelegenheiten! Da müssen richtige Experten ran! Die können nicht einfach so von einem dahergelaufenen Hauptschulabbrecher“, beim nächsten Wort malt er Gänsefüßchen in die Luft, „,ausgedacht‘ werden! Raus hier!“ Er weist auf die Tür.

„Vollidiot“, murmelt auch Ingo M. Petent und macht sich wieder an die Arbeit.

16 Gedanken zu „Neulich bei der Lügenpresse (6:00)

  1. „[…]noch so grün hinter den Ohren, dass ihm der Schmodder der Jungfräulichkeit in Sturzbächen bis in den Nacken rinnt.“ – ein Traum von einem, wenngleich etwas widerlich und ekelig anmutenden, Bild! :D

    Du hast übrigens vergessen zu erwähnen, dass der Chefred dann zur alltäglichen, allumfassenden, bundesdeutschen Chefred-Skype-Konferenz eilt, um sich mit allen anderen gleichgeschalteten und systemtreuen Lügenkressechefredakteuren abzustimmen, damit ja alle das gleiche berichten – selbstverständlich nur in den überregionalen Ressorts!!!11!!! ;)

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